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# taz.de -- Der sonntaz-Streit: „An der Realität vorbei“
> Die Kirche wehrt sich gegen die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ im
> Unterricht. Dass sie da überhaupt was zu suchen hat, bezweifeln Kritiker.
Bild: Der Einfluss der Kirche in Klassenzimmern ist nach wie vor groß.
Ein Rauswurf der Kirche aus den Schulen „wäre Intoleranz in umgekehrter
Richtung. Ansichten, die nicht passen, werden hinausgeworfen. Das ist
bequem, aber wäre falsch“, warnt der ehemalige Vizepräsident des Deutschen
Bundestags, Wolfgang Thierse. „Was soll an die Stelle der Kirchen treten?
Die Schule nur noch ein Ort für Atheisten, Agnostiker, Säkularisten?“ fragt
er.
Hintergrund der Debatte ist der Streit um den neuen Bildungsplan des Landes
Baden-Württemberg, der im Jahr 2015 in Kraft treten soll. Das Arbeitspapier
sieht vor, die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in den Schulen stärker zu
vermitteln. Dagegen laufen konservative Kreise und Kirchen Sturm. In einer
gemeinsamen Stellungnahme der zwei evangelischen Landeskirchen und der zwei
katholischen Diözesen in Baden-Württemberg ist zu lesen: „Jeder Form der
Funktionalisierung, Instrumentalisierung, Ideologisierung und
Indoktrination gilt es zu wehren. Dies gilt nicht zuletzt im sensiblen
Bereich der sexuellen Identität und damit verbundener persönlicher und
familiärer Lebensentwürfe“.
Ein Realschullehrer aus dem Schwarzwald startete eine [1][Online-Petition
unter dem Titel „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015
unter der Ideologie des Regenbogens“], die mittlerweile über 150.000
Unterstützer sammelte. Unter den Kommentaren auf der Petitionsseite tauchen
vermehrt homophobe Äußerungen auf. Inzwischen wurden zwei
Online-Gegenpetitionen initiiert, die von [2][rund 125.000] und von
[3][mehr als 78.000 Menschen] unterzeichnet wurden.
Anlässlich der Debatte stellte die sonntaz diese Woche die Frage: Soll die
Kirche raus aus den Schulen?
Nein, antwortet die Sprachwissenschaftlerin und Rapperin Lady Bitch Ray.
„Wenn Deutschland ein laizistischer Staat wie Frankreich wäre und die
„Kirche aus den Schulen raus“ ginge, hieße das, dass auch das Kopftuch an
Schulen verboten wäre“, argumentiert sie. „Das würde strenggläubige
Musliminnen ausgrenzen und ihre Bildungschancen blieben ihnen verwehrt.“
Gleichzeitig fordert Lady Bitch Ray: „Sowohl die Kirche, als auch die
Moschee und die Synagoge müssen endlich toleranter werden und sexuelle
Vielfalt in ihre Glaubenslehre einbeziehen! Und zwar nicht nur die, sondern
auch die Emanzipation der Frau.“
## Ausgrenzung und Unterstützung durch die Kirche
##
„Die Kirche gehört in die Schulen! Hand in Hand mit anderen Religionen und
gesellschaftlichen Gruppen muss sie jungen Menschen erklären, was sie mit
Liebe, Solidarität, Toleranz und Freiheit meint“, sagt Markus Gutfleisch
von der Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK). „Viele
Lesben, Schwule, Bisexuelle, TransMenschen und Intersexuelle haben
Ausgrenzung durch die Kirche erlebt. Viele erfahren aber auch Unterstützung
durch die Kirche: durch mutige Heteros, die in Gemeinden, Gruppen und
Synoden für eine erneuerte, offene Kirche kämpfen.“
Auf der Nein-Seite stellten sich auch Annegret Laakmann, Referentin der
Laienbewegung „Wir sind Kirche“, Ernst Dieter Rossmann, bildungspolitischer
Sprecher der SPD im Bundestag und sein Kollege der
CDU/CSU-Bundestagsfratkion Albert Rupprecht.
Nach Ansicht des Theologen David Berger, der lange Zeit Professor im
Vatikan war und sich im Jahr 2010 outete, hat dagegen die Kirche in den
Schulen nichts zu suchen. „Statt Toleranz und Akzeptanz werden im
Religionsunterricht – auf Kosten des Staates – Schüler mit einer Lehre
indoktriniert, die seit Jahrhunderten die Grundlagen für die Ablehnung der
Demokratie und die Diskriminierung Homosexueller und Frauen liefert“,
schreibt Berger.
## „Wo, wenn nicht in der Schule?"
Auch Rainer Ponitka vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und
Atheisten (IBKA) beantwortete die sonntaz-Frage mit einem klaren Ja: „Das
alte Testament bezeichnet den homosexuellen Verkehr als Gräuel, für das
neue Testament ist er ‚widernatürlich‘, ‚entehrend‘ uns eine ‚Verirr…
Wo das nun hinführt, sehen wir in Baden-Württemberg: an der
gesellschaftlichen Realität vorbei schüren die Kirchen ihre Vorurteile
gegen Homosexualität.“
„Der Religionsunterricht ist zwar grundgesetzlich verbrieft und soll in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
durchgeführt werden, aber eben nicht zwingend durch diese selbst“, sagt die
bildungspolitische Sprecherin der Linke im Bundestag, Rosemarie Hein. „Das
Wissen über unterschiedliche Religionen gehört ebenso zum staatlichen
Bildungsauftrag von Schule wie die Vermittlung von Kenntnissen, Verständnis
und Akzeptanz unterschiedlicher Weltanschauungen und Lebensweisen sowie
sexueller Orientierung“.
„So lange einige Kirchen Homosexualität als Sünde maßregeln, ist sie meiner
Meinung nach kein guter Partner in der Erstellung eines zeitgemäßen
Bildungsplans“, kritisiert der bildungspolitische Sprecher der Grünen im
Bundestag, Özcan Mutlu. „Wenn Realitäten verkannt werden und wie in
Baden-Württemberg beispielsweise Intoleranz und Feindbilder bewusst
geschürt werden, darf dies in keiner Weise akzeptiert werden“, sagt Mutlu.
„Die Diskriminierung von homo-, trans- und intersexuellen Menschen ist
traurige Realität. Schülerinnen und Schüler werden auf Schulhöfen für ihre
sexuelle Orientierung verspottet und verprügelt. Daher ist es wichtig, dass
sie sich vorurteilsfrei über sexuelle Orientierungen informieren und
diskriminierungsfreie Werte ausbilden können. Wo, wenn nicht in der
Schule?“.
Darüber hinaus wurde die sonntaz-Frage auf Facebook und taz.de viel
diskutiert. So schreibt zum Beispiel Nora Pohlmann, Schülerin aus
Darmstadt, auf der [4][Facebook-Seite der taz]: „Es ist ein Unding, dass in
einem angeblich so toleranten und weltoffenen Land einzelne, ausgewählte
Religionen in der Schule unterrichtet werden und die Kirche sogar Einfluss
auf die Unterrichtsinhalte hat, während in allen anderen Fächern ein
gemeinsames miteinander gepredigt wird.“
Die Streitfrage beantworteten außerdem Christian Stärk, Vorsitzender des
Landesschülerbeirats Baden-Württemberg, Detlef Mücke, Mitglied der AG
schwule Lehrer in der GEW Berlin, Birgit Sendler-Koschel, Leiterin der
Bildungsabteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland und die
taz-LeserInnen Bettina Auschra, Giulia Neumann, Stefan Cohnen und Tim
Kummert – [5][in der taz.am wochenende vom 18./19. Januar.]
18 Jan 2014
## LINKS
[1] http://www.openpetition.de/petition/online/zukunft-verantwortung-lernen-kei…
[2] http://www.campact.de/vielfalt-gewinnt/
[3] http://www.openpetition.de/petition/online/gegenpetition-zu-kein-bildungspl…
[4] http://www.facebook.com/taz.kommune/posts/10202052107282820?stream_ref=10
[5] /Ausgabe-vom-18/19-Januar-2014/!131164/
## AUTOREN
Alessandro Alviani
## TAGS
Streitfrage
Homophobie
Kirche
Schule
Unterricht
Religionsunterricht
Ehe
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Homophobie
Rezept
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