# taz.de -- Kurden in der Türkei: Kinder ab in den Knast | |
> „Sie verhaften unsere Kinder nur, weil wir Kurden sind“, sagt eine | |
> Mutter. Eindrücke aus Mersin, wo viele Kurden am Rande der Gesellschaft | |
> leben müssen. | |
Bild: Der 8-jährige Davut Özer in der Küche seines Hauses am 20. November 20… | |
Schon jeder Dreikäsehoch in Sevket Sümer kennt die Gleichung: Polizei ist | |
gleich feindliche Staatsmacht, die Kurden nur mit Gewalt und Verachtung | |
begegnet. Vor der Polizeiwache im kurdischen Viertel der südtürkischen | |
Hafenstadt Mersin stehen zwei Beamte mit schweren Maschinengewehren, auf | |
dem Hof ist ein Wasserwerfer geparkt, allzeit einsatzbereit. Polizisten | |
fahren nur in gepanzerten Fahrzeugen mit vergitterten Windschutzscheiben | |
durch das Quartier. | |
Dabei hat die Polizei in Sevket Sümer auch ein anderes, freundliches | |
Gesicht. Es gibt einen Spielplatz und sogar mehrere Computer mit | |
Internetanschluss für Kinder. Einige besuchen deshalb gerne die Wache, und | |
manche Eltern sind froh, wenn ihre Kleinen an einem sicheren Ort sind. | |
Davuts Familie wohnt genau gegenüber der Polizeiwache. Nach der Schule ist | |
er häufig zum Spielen rübergegangen. Dabei kam es schon mal vor, dass ihm | |
ein Polizist eine Ohrfeige verpasste. Deshalb gab seine Mutter zuerst nicht | |
viel darauf, als ihr am 11. September Kinder sagten, Davut werde | |
geschlagen. „Ich dachte, vielleicht hat er etwas angestellt“, sagt Kamile | |
Özer. Aber dann hätten Nachbarn Alarm geschlagen: „Sie schlagen dein Kind | |
tot.“ | |
## Sein ganzer Körper voller blauer Flecken | |
Özer, eine rundliche Frau mit rosiger Haut und munteren Augen, rannte die | |
paar Meter über die Straße. Am Eingang der Wache versperrten ihr Beamte den | |
Weg. Ein Polizist habe ihr sogar mit Schlägen gedroht. Aber Özer lies nicht | |
locker. Schließlich wurde sie hineingelassen und suchte in der Wache | |
überall nach ihrem Sohn. Sie stieß die Tür zu einem Raum auf. | |
„Da lag er. Sein ganzer Körper voller blauer Flecken. Drei Polizisten | |
standen da und schütteten kaltes Wasser über ihn. Einer rubbelte sein | |
Gesicht“, sagt sie. Im Spital stellten die Ärzte am nächsten Tag schwere | |
Hämatome durch äußere Gewalteinwirkung und eine gebrochene Nase fest. Ein | |
Psychiater bescheinigte dem Achtjährigen eine traumatische Störung. | |
Zusammengekauert, die Arme an den Körper gedrückt und die Hände im Schoß | |
vergraben, sitzt Davut auf dem Sofa und hört der Unterhaltung zu. Mehr als | |
drei Monate nach dem brutalen Vorfall hat er Angst, alleine auf die Straße | |
zu gehen. Nachts wacht er auf und schreit. „Wenn ich ihn baden will, wehrt | |
er sich, weil er denkt, alles ginge von vorne los“, sagt seine Mutter. Der | |
Psychiater hat ihm gegen die Angstzustände ein Neuroleptikum und ein | |
Antidepressivum verschrieben. „Was Davut bräuchte, wäre eine Therapie bei | |
einem Kinderpsychologen“, sagt uns eine Psychologin, die ihn kennt. Das | |
können sich die Eltern freilich nicht leisten. | |
Kamile Özer hat nie eine Schule besucht und kann weder lesen noch | |
schreiben. Sie hat früh geheiratet und fünf Kinder zur Welt gebracht. Ihr | |
Mann verdingt sich als Lastenträger, der älteste Sohn schlägt sich | |
ebenfalls als Tagelöhner durch. Sie selbst bessert die Haushaltskasse auf, | |
indem sie für andere Leute Brot bäckt. Alltag in Sevket Sümer. | |
## Eine wohlhabende Stadt | |
Mersin ist eine wohlhabende Stadt. Der zweitgrößte Hafen des Landes hat in | |
den letzten Jahren Zuwachsraten von 20 Prozent erlebt. Er ist ein wichtiger | |
Umschlagplatz für Erdöl, hier enden die Pipelines nach Ceyhan. Daneben | |
bringen Zitrusfrüchte und Baumwolle Wohlstand. | |
In der Innenstadt versprühen trendige Cafés und eine Küstenpromenade mit | |
Palmen und Bootsrestaurants mediterranes Flair. Keine zwanzig Minuten | |
entfernt liegen Sevket Sümer und die anderen kurdischen Quartiere der | |
Millionenstadt. Von Aufschwung weit und breit keine Spur. Ein paar kleine | |
Handwerker, ein Brautmodengeschäft, zwei Apotheken und ein Billardsalon ist | |
alles, was das Viertel zu bieten hat. Die meisten Läden stehen leer und | |
sind mit Metallrollläden verrammelt. In den Kaffeehäusern vertreiben sich | |
Männer mit Brettspielen die Zeit oder sitzen schweigend da. „Das einzige, | |
was hier blüht, ist der Drogenhandel“, sagt eine Sozialarbeiterin. | |
Viele Kurden kamen nach Mersin in der Hoffnung, ihr Glück zu finden. | |
Anderen blieb keine andere Wahl, weil das Militär im Kampf gegen die | |
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den neunziger Jahren in ihre Dörfer | |
einmarschierte und Soldaten die Häuser und Höfe niederbrannten. Allein nach | |
Mersin flohen damals Zehntausende. | |
Es war mitten in den dunklen neunziger Jahren, Fatma Kaygan war mit ihrem | |
fünften Kind schwanger, als die Polizei auftauchte und ihren Mann wegen | |
Unterstützung der PKK verhaftete. Ihr ältester, damals elfjähriger Sohn | |
Erdal musste die Schule abbrechen, um mit dem Verkauf von Hausschlappen die | |
Familie durchzubringen. | |
„Drei Jahre, einen Monat und 15 Tage saß mein Vater wegen nichts im | |
Gefängnis“, sagt Erdal Kaygan. Vor einer Woche tauchte die Polizei wieder | |
auf und verhaftete den Jüngsten, der geboren wurde, als der Vater im Knast | |
saß. Es ist nicht das erste Mal, dass der heute 17-Jährige Ärger mit der | |
Polizei hat. Schon fünf Mal stand er wegen der Teilnahme an Protesten und | |
Steinewerfens vor Gericht. Doch diesmal geht es um mehr. Die Ermittler | |
werfen ihm vor, er habe vor zwei Jahren einen Molotowcocktail auf eine | |
Schule geworfen. „Mein Bruder träumt davon, Arzt oder Rechtsanwalt zu | |
werden. So etwas hätte er nie getan“, sagt Erdal. „Sie verhaften unsere | |
Kinder nur, weil wir Kurden sind“, sagt seine Mutter. | |
Mehrere Justizreformen hat die Regierung in jüngster Zeit auf den Weg | |
gebracht, seit einem Jahr verhandelt sie mit dem inhaftierten PKK-Chef | |
Abdullah Öcalan über einen Frieden. | |
## Menschenrechtler sprechen von Rachejustiz | |
Für die Kurden in Mersin hat sich dadurch wenig geändert. „Kinder landen | |
hier weiterhin wegen Lappalien im Gefängnis“, sagt Ali Tanriverdi vom | |
Menschenrechtsverein IHD. Allein in den letzten Monaten hat der IHD 129 | |
Fälle von Verhaftungen Minderjähriger dokumentiert. Dabei sind die Richter | |
mit saftigen Freiheitsstrafen schnell bei der Hand. Schon für einen | |
Steinwurf kann es 15 Jahre geben. Ist ein Jugendlicher mehrmals auffällig | |
geworden, verhängen die Richter oft für jeden Tatbestand eine eigene | |
Strafe. Auf diese Weise seien einem 16-Jährigen 65 Jahre Gefängnis | |
aufgebrummt worden, sagt Tanriverdi. Er ist kein Einzelfall. Laut dem IHD | |
sind in jüngster Zeit 67 Jugendliche zu insgesamt fast 579 Jahren Gefängnis | |
verurteilt worden. | |
Der Menschenrechtler sieht darin einen Akt von Rachejustiz. Viele der | |
Verurteilten seien zuvor in Pozanti inhaftiert gewesen, sagt Tanriverdi. In | |
dem Jugendgefängnis in der Provinzhauptstadt Adana hatten Mitgefangene 13- | |
bis 17-jährige Jugendliche systematische misshandelt und vergewaltigt. | |
Monatelang hatte sich der IHD bemüht, die Behörden zum Handeln zu bewegen. | |
Nachdem nichts passiert war, wandten sich die Menschenrechtler im März 2012 | |
an die Öffentlichkeit. | |
Der Skandal führte landesweit zu Schlagzeilen. Die Regierung versuchte, die | |
Berichte zuerst als PKK-Propaganda abzutun, musste sie dann aber | |
bestätigen. Sie schloss den Horrorknast und verlegte die Kinder nach | |
Ankara. Nach ihrer Freilassung wandten sich viele Opfer an den IHD. | |
„Deshalb wurden sie jetzt so hart bestraft“, sagt Tanriverdi. | |
Auszuschließen ist das nicht. Familien berichten von massivem Druck der | |
Polizei, die Aussagen der Kinder zurückzuziehen. Während die Leiter von | |
Pozanti mit einer Versetzung davonkamen, landete Tanriverdi ebenfalls im | |
Gefängnis. Sieben Monate saß er im Hochsicherheitsgefängnis von Adana. Im | |
März kam er frei, doch das Verfahren läuft weiter. | |
„Verleumdung der Türkei“ wirft ihm die Anklage wegen der Pozanti-Berichte | |
vor. Sie hat 45 Jahre Haft beantragt. Auf einem Schreibtisch liegt ein | |
dicker Stapel von abgehörten Telefongesprächen. Minutiös haben die Lauscher | |
protokolliert, mit wem er über Pozanti sprach. „Nach wie vor will man uns | |
zum Schweigen bringen“, sagt der 65-jährige ehemalige Lehrer. „Nichts hat | |
sich geändert.“ Das ist der Nährboden, auf dem die PKK gedeiht. Trotz | |
Waffenstillstand mangelt es ihr nicht an Zulauf. | |
## „Haut ab, ihr Hunde! Haut ab!“ | |
In Sevket Sümer preisen Graffiti an Häuserwänden die PKK und ihren Chef | |
„Apo“. „Für den Friedensprozess braucht es zwei“, sagt Fahriye Cengiz.… | |
Regierung stellt nur Forderungen.“ Dabei ist es in dem Quartier nicht nur | |
der Staat, der Gewalt sät. Prügel in der Familie sind an der Tagesordnung, | |
Morde an Frauen ebenso. Allein in diesem Sommer seien drei Frauen | |
umgebracht worden, sagt Cengiz. Mit Familienberatung, Sportkursen und | |
Theaterprojekten versuchen die Psychologin und ihre drei Kolleginnen vom | |
Frauenzentrum Istar, das Elend etwas zu lindern. Frauen in langen, dünnen | |
Baumwollröcken mit bunten Mustern und Kopftüchern mit gehäkelten Spitzen | |
sitzen auf dem Sofa am Eingang. „Unser Teehaus“, nennt es eine der Frauen | |
und lacht. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. | |
Vor der Polizeiwache feixen und grölen ein paar Buben. Der Jüngste ist | |
gerade einmal neun, der Älteste zwölf Jahre alt. „Hunde! Hunde!“, brüllen | |
sie aus Leibeskräften. Dazu hopsen sie und machen das V-Zeichen. „Haut ab, | |
ihr Hunde! Haut ab!“ Vom Balkon verfolgt Davut den Zwergenaufstand mit | |
starrem Blick. Seine Eltern haben Klage gegen den Polizisten eingereicht, | |
der ihn verprügelt hat. „Ich habe der Polizei vertraut“, sagt seine Mutter. | |
„Aber wenn du Kurde bist, wirst du behandelt wie ein Terrorist. Dabei | |
verbreiten sie den Terror.“ | |
24 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Inga Rogg | |
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