| # taz.de -- Iranisch-französischer Film „Le passé“: Nach der Lebensspannu… | |
| > Asghar Farhadi erzählt eine Familiengeschichte aus dem multinationalen | |
| > Frankreich. Mit „Le passé“ ist dem Iraner ein großer Wurf gelungen. | |
| Bild: Die Hauptdarsteller Tahar Rahim (l.), Bérénice Bejo (M.) und Ali Mosaff… | |
| In dem Auto, in dem Marie und Ahmad vom Flughafen zu ihr nach Hause fahren, | |
| herrscht dicke Luft. Wie das eben so ist, wenn zwei Menschen einander nach | |
| längerer Zeit wiedersehen, die noch einige Rechnungen miteinander offen | |
| haben. Eine Französin und ein Mann aus dem Iran, ein gescheitertes Paar, | |
| verbunden und getrennt durch jenes intime Wissen, das während eines | |
| Zusammenlebens entsteht und auf das sich jederzeit zurückgreifen lässt. | |
| Auch jetzt noch, vier Jahre nach der Trennung, bei einem Wiedersehen, das | |
| einem formellen Vollzug dienen soll: Marie und Ahmad sollen geschieden | |
| werden, sie ziehen nun auch vor den Behörden einen Schlussstrich. | |
| Eigentlich wäre es wohl besser gewesen, er würde die paar Tage in einem | |
| Hotel wohnen. Doch Marie hat kein Zimmer reserviert, sie war sich nicht | |
| sicher, ob er überhaupt kommen würde. Nun wird Ahmad also bei ihr wohnen, | |
| in dem kleinen Haus in einer lärmigen Siedlung an der Pariser Peripherie. | |
| Zwei Mädchen und ein Junge sind auch noch da. Fouad muss für Ahmad sein | |
| Zimmer räumen. Er ist wütend, aber es wird bald klar, dass sein Protest | |
| tiefere Gründe hat als die vorübergehende Delogierung. Fouad gehört nämlich | |
| nicht richtig zur Familie. Er ist hier nur untergebracht, weil sein Vater | |
| Samir der neue Freund von Marie ist. Die beiden Mädchen Léa und Lucie | |
| stammen aus einer früheren Beziehung von Marie. Und schließlich taucht auch | |
| Samir auf, der sich eigentlich eine Weile nicht hätte sehen lassen sollen. | |
| Und so liegt, ungefähr eine halbe Stunde nach Beginn des Films „Le passé“ | |
| von Asghar Farhadi, eine komplexe Familienanordnung zutage, in die wir uns | |
| immer noch weiter hineinbewegen. Denn das, wovon der Titel spricht, wird | |
| durch die Form der Erzählung markant konterkariert: „La passé“ spricht von | |
| der Vergangenheit in einer strikt präsentischen Weise. | |
| Es gibt keine Rückblenden, und doch handelt die Geschichte, die einfach | |
| Schritt um Schritt macht, von nichts anderem als von den vergangenen | |
| Dingen, von denen die Gegenwart auf vielfach verschlungene Weise bestimmt | |
| wird. Und zwar offensichtlich stärker, als dies bei jedem Menschen ohnehin | |
| der Fall ist. Allerdings auch nicht so stark, dass aus den ursprünglichen | |
| Tatsachen, wie in der klassischen Tragödie, schon das unausweichliche | |
| Verhängnis resultiert. | |
| ## Durchmessen einer sozialen Ordnung | |
| „Le passé“ besetzt den Raum zwischen der Tragödie und dem banalen Alltag | |
| und entfaltet sich dabei als analytisches Drama im besten Sinn. Die Knoten | |
| des Geschehenen müssen gelöst werden, und Ahmad, den wir in den anfangs | |
| noch stark durch die Skepsis von Marie hindurch gesehen hatten, erweist | |
| sich dabei als Geburtshelfer eines möglichen neuen Gleichgewichts zwischen | |
| den beteiligten Personen. | |
| Vor drei Jahren hatte Asghar Farhadi mit „Nader und Simin – Eine Trennung“ | |
| eine vergleichbare Geschichte aus dem Iran erzählt. Doch war damals das | |
| Organisationsprinzip ein ganz anderes: ein Vorfall in einer bürgerlichen | |
| Familie in Teheran gab Farhadi die Gelegenheit zu einer höchst nuancierten | |
| Erforschung der gegenwärtigen iranischen Gesellschaft. Es ging ihm dabei | |
| nicht um die Vergangenheit, sondern um ein Durchmessen der sozialen | |
| Ordnung. | |
| Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für „Le passé“, denn auch hier | |
| haben wir es mit einem markanten Ausschnitt aus dem multinationalen | |
| Frankreich zu tun: Marie, Ahmad, Samir, das ist eine Konstellation, in der | |
| sich verschiedene Bezüge widerspiegeln, das iranische Exil, die engen | |
| Beziehungen zum Maghreb. Farhadi erzählt von Menschen, die in vielerlei | |
| Hinsicht nicht ganz bei sich sind; interessanterweise ist es Ahmad, der | |
| eindeutig nicht mehr nach Paris gehört, der am meisten mit sich im Reinen | |
| zu sein scheint, und zwar weil er schon vor vielen Jahren begriffen hat, | |
| dass er an einen anderen Ort gehört. Das erst gibt ihm die Möglichkeit, | |
| während der Zeit des Films ganz da zu sein. | |
| ## Warum Paris? | |
| Als „Le passé“ im vergangenen Jahr in Cannes Premiere hatte, waren die | |
| Reaktionen gemischt. Die Mutmaßung liegt nahe, dass das auch etwas mit den | |
| Vorurteilen der Weltkino-Öffentlichkeit zu tun hat: Warum macht ein | |
| iranischer Regisseur einen Film in Paris? Wo es doch in seinem Land | |
| genügend Aufgaben gibt für ein sozialkritisches Kino, wie Farhadi es so | |
| perfekt kann. Doch wenn man unbefangen hinsieht, dann wird deutlich, dass | |
| die Kontinuitäten stärker sind als das Moment des Neubeginns in einer | |
| anderen Kultur. Die Möglichkeit des Weggehens stand schon in „Nader und | |
| Simin“ ständig im Raum, dort war es die Frau, die dafür plädierte. Ahmad | |
| hat diese Erfahrung schon hinter sich. | |
| Marie (gespielt von Bérénice Bejo, die nach „The Artist“ ein | |
| internationaler Star geworden ist) ist eine dieser alleinerziehenden | |
| Mütter, die wir aus so vielen Ländern und sozialen Zusammenhängen kennen. | |
| Und mit jeder neuen Schicht, die Farhadi von der Vergangenheit dieser | |
| Menschen freilegt, mit jedem Moment von (vermuteter oder tatsächlicher) | |
| Schuld wird auch ein Moment von Kultur erkennbar. Dies alles setzt sich zu | |
| einem Komplexitätsbild zusammen, wie es im Weltkino derzeit nicht viele | |
| Regisseure können. | |
| „Le passé“ endet mit einem Bild zweier ineinandergefalteter Hände: eine i… | |
| leblos, und eine tastet nach der Spannung des Lebens und umschließt das | |
| Leben zugleich sorgsam. Das Zweitere ist ziemlich genau das, was Asghar | |
| Farhadi mit seinen Filmen macht. | |
| 30 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Rebhandl | |
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