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# taz.de -- Schriftstellerin Julie Zeh: Die Bewahrerin
> Die Schriftstellerin Julie Zeh ist eine prominente Streiterin gegen
> staatliche Überwachung. Doch sie kämpft vor allem für die Freiheit der
> Wohlhabenden.
Bild: Heinrich Bö...– äh, Juli Zeh. Hier vorm Kanzleramt
Kaum nähern sich notorisch kamerapräsente Protagonisten der früheren
Generationen, Alice Schwarzer etwa oder Günter Grass, allmählich dem
Ruhestand, scheint Juli Zeh entschlossen, in die entstehende Lücke zu
stoßen. Der NSA-Skandal bot ihr eine gute Gelegenheit, zum Thema
Überwachung hatte Zeh bereits, zusammen mit Ilija Trojanow, 2009 ein Buch
vorgelegt. Während ihr Appell an Bundeskanzlerin Merkel im letzten Sommer
eher belächelt wurde, gelang es ihr, mit der Petition „Die Demokratie
verteidigen im digitalen Zeitalter“ eine eindrucksvolle Liste von
internationalen Großschriftstellern zu mobilisieren.
Landauf, landab wurden ihre Aktivitäten als ein Beleg für die
Repolitisierung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern gelesen, ja,
die Figur des „klassischen Intellektuellen“ sei wieder erstanden, schreibt
etwa Iris Radisch [1][in der Zeit]. Zehs Engagement braucht Inszenierung,
sie geriert sich ein wenig als Jeanne d’Arc des digitalen Zeitalters. In
einer von Medienbildern abhängigen Welt ist so etwas legitim, wenn diese
Mittel den guten Zweck heiligen. Tun sie das aber hier?
Das Role Model des engagierten Autors, das Zeh zitiert, wurde in den
neunzehnhundertsechziger und -siebziger Jahren durch Personen wie Böll,
Walser und letztlich auch Grass ausgefüllt, die in ihren öffentlichen
Stellungnahmen einen hohen moralischen Anspruch anlegten, von dem ebenso
ihr literarisches Werk zeugte. Da Juli Zeh sich hier einreiht, sollte man
von ihr Ähnliches erwarten. Wofür steht sie überhaupt? Welche Werte
vertritt sie in ihren Schriften zu Politik und Gesellschaft?
Vor dem erwähnten „Angriff auf die Freiheit“ war bereits 2006 ein
Sammelband unter dem Titel „Alles auf dem Rasen“ erschienen, auch
veröffentlichte Zeh bis 2007 regelmäßig Essays in der Zeit. Seitdem äußert
sie sich in Interviews und Manifesten.
## Der beste aller Staaten
Auffällig an Zehs schriftstellerischem Politikverständnis ist, dass sie
sich geradezu zwanghaft auf dem Boden der Realpolitik bewegt. Voltaires
Philosophen Pangloß gleich geht sie nimmermüde mit dem Gedanken hausieren,
wir lebten vielleicht in „keiner guten, jedoch in der besten aller
denkbaren Staatsformen“, wie sie in „Alles auf dem Rasen“ schreibt. Eine
bessere Welt möchte sie sich also nicht einmal vorstellen. Verwunderlich,
denn gerade Künstlerinnen und Künstlern steht in Demokratien die
Möglichkeit offen, gesellschaftliche Utopien zu entwickeln, ohne sich einer
partei- oder klientelgebundenen Denkdisziplin unterwerfen zu müssen. Ihnen
steht es frei, sich mit dem Status quo nicht abzufinden, sondern ihn
fundamental zu kritisieren, ohne unmittelbare Folgen zu gewärtigen.
Sie brauchen sich nicht mit den Funktionären des Common Sense auf Debatten
über falsche und weniger falsche Lösungen einzulassen, sie können denken,
was sie wollen – auch das gehört zum erwähnten Role Model. Nicht so bei
Juli Zeh. Sie ist überzeugte Parteigängerin der westlichen Staaten in ihrer
aktuellen Verfassung, sieht uns Europäer gar als „Nutznießer einer in
Erfüllung gegangenen Utopie“, die es nun zu bewahren gelte. Im Zeichen
einer grassierenden Umverteilung von unten nach oben, angesichts von rund
13 Millionen armutsgefährdeten Deutschen, erscheint diese Haltung reichlich
realitätsvergessen, zumal die Krise auf anderen europäischen Ländern noch
viel schwerer lastet.
Für Juli Zeh sind dies die notwendigen Härten der freien Welt, [2][in einem
Essay erklärt sie]: „Man kann aber nicht Speck haben und das Schwein
behalten – nicht die Freiheiten des Kapitalismus genießen und gleichzeitig
nach einer sicheren Kuschelwelt verlangen.“ Hier würden Angela Merkel und
Philipp Rösler sicher zustimmen.
An anderer Stelle [3][warnt Zeh] den Staat vor Versuchen, „mit politischen
Instrumenten erzieherisch“ auf die Wirtschaft einwirken zu wollen und sie
isoliert von der Gesellschaft zu betrachten als „eine Art selbständiges,
schwer zu bändigendes Wesen“. Das nämlich sei sie nicht, vielmehr seien
Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verflochten. Hier hat sie natürlich
recht, aber wie die Praxis zeigt, fallen „erzieherische“ Versuche des
Staates ohnehin eher halbherzig aus, schließlich sind die politischen
Parteien für gewöhnlich mit Lobbyisten der verschiedensten
Interessengruppen durchsetzt. Darüber schweigt Juli Zeh, die mit der
Wirtschaftsmacht auch gar keine grundsätzlichen Probleme hat: „Um
Missverständnisse zu vermeiden: Hier soll nicht in antikapitalistischer
Absicht die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge für unser Leben kritisiert
werden.“
Diesem Missverständnis aufzusitzen fällt bei Lektüre ihrer Essays schwer.
Denn im Umkehrschluss folgt aus ihren Ausführungen, dass man der Wirtschaft
das Feld zu überlassen habe, die unsichtbare Hand der Marktkräfte regele
dann schon unser Wohlleben. Dass dies in der Praxis nicht funktioniert, ist
inzwischen bekannt, Profiteure und Notleidende dieses Wirtschaftens
verteilen sich alles andere als paritätisch. Es ist hilfreich, sich vor
Augen zu führen, welchen Teil der Bevölkerung Juli Zeh mit ihren Argumenten
im Auge hat.
## Literatur für Entscheider
Wenn sie etwa propagiert, dass es für das Funktionieren eines ökonomischen
Systems sehr wichtig sei, „was die Menschen kaufen, wann, wie und wie viel
sie am liebsten arbeiten und womit sie ihre freie Zeit verbringen“, dann
richtet sich das offensichtlich an eine Gruppe, die darüber überhaupt
entscheiden kann: Leute, die sich mehr leisten können, als nur
Grundnahrungsmittel im Discounter zu kaufen; Leute, die über ihre Arbeit
und ihre Freizeit eigenständig verfügen und nicht in einem Korsett aus
Zwängen und Druck gefangen sind; Leute, die eine Arbeit haben und nicht
erwerbslos sind, ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe, abgehängt.
Solche sozialen Probleme zu lösen liege – so Zeh – aber nicht in der Hand
der Politik, das müssten die Einzelnen schon selber richten, das
Anspruchsdenken gegenüber der Politik müsse aufhören. Die politischen
Funktionäre sollten stattdessen Sachen entscheiden, die sie wirklich
beeinflussen könnten, außenpolitische Grundsatzentscheidungen, innere
Sicherheit und Atomausstieg.
Die Wirtschaft zu lassen, wie sie ist, das Überleben der gesellschaftlich
Schwächeren deren eigener Findigkeit zu überantworten, was ist daran
eigentlich nicht marktradikal? Die wüstesten Vertreter des
Wirtschaftsliberalismus würden es nicht anders formulieren. Kritische
Autorinnen und Autoren wähnt man eigentlich an der Seite der Schwachen, wie
zum Beispiel Ingo Schulze es eindrucksvoll vorführt – ist nicht Literatur
als weiche Gegenmacht konnotiert? Als Verfechterin humanitärer Werte gegen
die Hegemonie von Politik und Geschäftswelt?
Juli Zehs „Angriff auf das digitale Imperium“ ist völlig anders geartet.
Ihr vehementer Kampf für die Bürgerrechte verschleiert, dass es ihr um alle
Bürger gar nicht geht. Wenn man ihre eigenen Ausführungen nachvollzieht,
begreift man, welche „Freiheit“ in der von Zeh gestarteten Petition gegen
die NSA gemeint ist, es ist jene Freiheit, die ein Heer von
Ausgeschlossenen in den europäischen Gesellschaften längst verloren hat. Es
ist die Freiheit, von der Joachim Gauck, Bundespräsident, auch immer redet.
Die Freiheit der Wohlhabenden.
16 Feb 2014
## LINKS
[1] http://www.zeit.de/2013/51/schriftsteller-protest-digitale-ueberwachung
[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40474074.html
[3] http://www.zeit.de/2005/39/Wahl
## AUTOREN
Enno Stahl
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