# taz.de -- Regisseurin Speth über „Töchter“: „Das sind beschädigte Me… | |
> Regisseurin Maria Speth über das, was sich hinter der Fassade der | |
> Normalität verbirgt, und die Begegnung zweier Frauen in ihrem Film | |
> „Töchter“. | |
Bild: Szene aus „Töchter“: „Sie sind nicht in der Lage, diese Beschädig… | |
taz: Frau Speth, in Ihrem Spielfilm „Madonnen“, in dem Dokumentarfilm „9 | |
Leben“ und in Ihrem neuen Film „Töchter“ geht es um junge Obdachlose. Was | |
zieht Sie zu den Kids, die auf der Straße leben? | |
Maria Speth: Bei Beendigung der Dreharbeiten zu „Madonnen“ hat mir jemand | |
ein Buch gegeben, das hieß „Dann hau ich eben ab“. Das war eine Sammlung | |
von Gesprächen mit Eltern, deren Kinder von zu Hause weggelaufen sind. | |
Daraus entstand das Interesse, die Geschichte der Fanny, einer der Figuren | |
aus „Madonnen“, weiterzuerzählen. Ich begann also wieder zu recherchieren, | |
und das war auch schon die Recherche zu „Töchter“. | |
Der Dokumentarfilm „9 Leben“ war dann sozusagen ein Nebenprodukt. Wenn ich | |
an die Figuren und Personen von „Madonnen“, „9 Leben“ und „Töchter�… | |
Was mich an denen interessiert, ist, dass das alles sehr beschädigte | |
Menschen sind. In erster Linie seelisch beschädigt, aber auch körperlich. | |
Und sie sind nicht in der Lage, diese Beschädigungen zu verbergen. Sie | |
haben keine Techniken entwickelt, die Beschädigungen hinter der Fassade der | |
Normalität zu verstecken. Sie sind offensichtlich. Vielleicht, weil die | |
Verletzungen zu tief sind. Das berührt mich. | |
Für die Gespräche mit den Jugendlichen aus „9 Leben“ haben Sie dann eine | |
Studiosituation gewählt? | |
Ja, und was dabei passieren würde, war nicht so richtig einzuschätzen. Ich | |
war schon ein bisschen nervös, ob das so funktionieren wird, wie ich mir | |
das vorgestellt hatte. Aber es war dann ganz einfach, sie haben die Kamera | |
vergessen, und wir haben Gespräche geführt, wie wir es sonst auch getan | |
haben. Es ging darum, einen Raum zu schaffen, der es ihnen ermöglicht, sich | |
zu zeigen, sich zu offenbaren. | |
In gewisser Weise verstehe ich so übrigens auch meine Arbeit mit den | |
Schauspielern: Ich schaffe einen Raum, eine Situation, in der Menschen sich | |
zeigen können. Beim Spielfilm sind es dann Schauspieler. Dabei interessiert | |
mich aber in erster Linie, dass sie jenseits ihres Berufs auch bestimmte | |
Personen sind. Beim Casting bin ich also eher auf der Suche nach einem | |
konkreten Menschen und weniger nach einem Schauspieler, der eine Figur des | |
Drehbuchs verkörpert. | |
Man hätte sich die Geschichte auch anders vorstellen können – so, dass die | |
Mutter ihre verschwundene Tochter wiederfindet. Was interessierte Sie | |
daran, die Mutter, die nach ihrer Tochter sucht, mit einer anderen jungen | |
Frau zusammenzubringen? | |
Ich habe gehofft, dass das die Situation öffnet für eine Begegnung, die | |
frei ist von den konkreten, gemeinsamen, biografischen Verletzungen. Dass | |
sie die Freiheit haben, sich in den Rollen der Mutter und der Tochter | |
anders zu begegnen. | |
Diese sozusagen anders zu interpretieren. Für Momente fassen sie Vertrauen, | |
das auf Grund ihrer Erfahrungen plötzlich wieder in Misstrauen umschlägt. | |
Aus diesen Momenten des Vertrauens könnte sich etwas Neues, bis dahin nicht | |
Vorstellbares entwickeln. Eine Utopie, vielleicht. | |
Ist das mein Klischee, dass Sie die beiden Figuren eines Zusammenhangs | |
entheben, der dem realistischen Kino entspricht? | |
Dadurch, dass ein großer Teil der Begegnung dieser beiden Frauen isoliert | |
in einem Hotelzimmer stattfindet, kann ich verstehen, dass man das als | |
Abstraktion von einer sozialen Realität und vielleicht sogar als künstliche | |
Setzung empfinden kann. Andererseits ergibt sich diese Konstellation sehr | |
notwendig und – wenn man so will – „realistisch“ aus den | |
Ausgangsbedingungen der Erzählung. Agnes kommt in eine fremde Stadt, um | |
ihre Tochter zu finden, also wohnt sie in einem Hotel. | |
Ines ist obdachlos und sucht ein Dach und ein Bett. Der Ort, an dem sie das | |
finden kann, ist Agnes’ Hotelzimmer. Ich wollte mich bewusst auf die | |
Beziehung dieser beiden Frauen konzentrieren. Sie also isoliert betrachten. | |
Aber selbstverständlich soll das Hin und Her der Gefühle zwischen beiden | |
Frauen – jemand hat das als „Kammerspiel der Gefühle“ bezeichnet – als… | |
und wahrhaftig empfunden werden. | |
Corinna Kirchhoff und Kathleen Morgeneyer sind bekannte | |
Theaterschauspielerinnen. Sie bringen das mit, was sie auf der Bühne an | |
Präsenz haben. Das ist ein Spiel mit Stilisierungen. Es scheint Ihnen | |
wichtig, dass sie eine gewisse theatrale Präsenz in den Film bringen. | |
Mich interessiert kein Spiel mit Stilisierungen und auch keine Präsenz, die | |
auf theatralen Gesten beruht. Ich suche nach einer Präsenz, nach einer | |
Gegenwärtigkeit der konkreten Person. Wenn ein bestimmtes Repertoire an | |
Gesten zu dieser Person gehört, dann ist das eben so. Das kann ich nicht | |
ändern. Ich kann es nur für die Figur nutzbar machen. | |
Mit Kathleen Morgeneyer habe ich in der Vorbereitung genau solche Gespräche | |
geführt, wie ich es in „9 Leben“ mit den Jugendlichen gemacht habe. Das war | |
wichtig und interessant, denn es ist für meine Arbeit wichtig, dass ich | |
weiß, mit welchem Menschen ich es zu tun habe. Diese Gespräche haben dann | |
auch den Film beeinflusst und stellenweise verändert. Die Szene am Ende, in | |
der Ines am Fenster steht und aus ihrem Leben erzählt, hat viel mit unseren | |
Vorgesprächen zu tun. | |
Dieses Gespräch, in dem es um Ines’ Beschädigungen geht, ist nicht der | |
Schluss. Das Ende erscheint mir sehr offen. Stand das fest? | |
Dieses Ende stand fest. In anderen Drehbuchfassungen gab es andere | |
Variationen. Ich mag die Vorstellung, dass nach dem Aufeinanderprallen | |
dieser beiden Atome, Agnes und Ines, sich ihre Wege wieder trennen. Sie | |
verlieren sich aus dem Blick. Beide tragen ihre Erfahrungen mit sich. Aber | |
die eine weiß nicht, was mit der anderen passiert. Ihre Leben oder Tode | |
verlaufen wieder parallel. So ist es. | |
Haben Sie je daran gedacht, Agnes eine Schuld zuzuweisen? | |
Nein. Mir geht es nicht um eine moralische Bewertung. Ich wollte die | |
Begegnung zweier Frauen zeigen. Die Möglichkeiten oder Utopien, die so eine | |
Begegnung eröffnet. Die Möglichkeiten, sich anders in bestimmten Rollen zu | |
erfahren. Das Scheitern dieser Möglichkeiten, weil alte Verhaltensmuster | |
und Verletzungen aktiv sind. Das ist jenseits einer Frage nach Schuld. Und | |
Ines ist an dem Aufbrechen von Misstrauen genauso beteiligt wie Agnes. | |
Beide sind Täter und Opfer. | |
15 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
## TAGS | |
Tochter | |
Kino | |
Dokumentarfilm | |
Volker Schlöndorff | |
Stasi | |
Film | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinostart „Töchter“: Atome im Hotelzimmer | |
Eine Frau sucht nach der verschwundenen Tochter und findet stattdessen eine | |
Drifterin: „Töchter“, der neue Spielfilm von Maria Speth. | |
Dokumentarfilmer Peter Sempel: Der Seelenverwandte | |
Die wilden Künstler-Porträts des Hamburger Filmemachers Peter Sempel zeugen | |
von Zuneigung und Vertrauen. | |
Volker-Schlöndorff-Film auf der Berlinale: Zündschnur am Louvre | |
1944, die Nazis wollen Paris zerstören. Ein Wehrmachts-General und ein | |
schwedischer Generalskonsul ringen in „Diplomatie“ um die Stadt. | |
Berlinale Staralbum: Mélanie Laurent: Die Stilikone | |
Mélanie Laurent ist Festivalprofi, trotzdem scheint ihre Lust an der Pointe | |
immer wieder durch. Kann jemand, der so blendend aussieht, auch noch Talent | |
haben? | |
Berlinale-Film über Sascha Anderson: Feigheit vor dem Freund | |
Sascha Anderson war der Star des Underground-Betriebs von Ostberlin, bis er | |
als Stasi-Spitzel enttarnt wurde. Annekatrin Hendel rollt sein Leben auf. | |
Afghanistan auf der Berlinale: Gewissenskonflikte in Uniform | |
Im Wettbewerbsfilm „Zwischen Welten“ von Feo Aladag geht es um Soldaten in | |
Afghanistan. Oder um Kosslicks Idee von politischem Kino. | |
„Top Girls“ auf der Berlinale: Posttraditionelle sexuelle Emojobs | |
Mit ihrem Film über Sexarbeit zeigt Tatjana Turanskyj die unklaren Grenzen | |
zwischen Rollen und Personen auf. Für die Pointen fehlt oft die richtige | |
Form. |