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# taz.de -- Publizistin über Sotschi 2014: „Vielleicht sind dies Angestellte…
> Einschüchterungen, Enteignungen, Umsiedlungen. Die Russen haben Putin
> satt. Doch verändern kann Russland das nur selbst, sagt Sonja Margolina.
Bild: „Wieso sollten die Menschen jubeln und sich freuen?“
taz: Frau Margolina, was ging Ihnen während der Eröffnungsfeier für die
Olympischen Spiele durch den Kopf?
Sonja Margolina: Die Show war prächtig. Ich musste die ganze Zeit
sortieren, wessen Bilder gebraucht wurden, um die russische Geschichte zu
inszenieren. Interessant war zu sehen, dass ausgerechnet die Avantgarde,
die seit Stalin jahrzehntelang verboten war, die Folie für die moderne
Selbstdarstellung des Staates lieferte. Manche Kritiker monieren, dass
dabei die dunklen Seiten wie der Gulag ausgelassen wurden. Aber da muss man
mal die Kirche im Dorf lassen. Eine Olympiashow eignet sich nicht für die
Aufarbeitung von Geschichte.
Sie waren 1980 während der Olympischen Sommerspiele in Moskau dort
Promotionsstudentin. Wie war das damals?
Moskau wurde damals abgeriegelt, die Stadt war komplett leer. Vorortzüge,
die normalerweise Pendler in die Stadt bringen, fuhren nicht mehr.
Offensichtlich hatte man den Pendlern Urlaub gegeben, damit sie nicht
stören. Und man konnte plötzlich vieles kaufen, wofür man sonst stundenlang
anstehen musste. Ich selbst habe von den eigentlichen Spielen kaum etwas
mitbekommen. Sie wurden vom Tod des Liedermachers Wladimir Wyssozki am 25.
Juli überschatten.
Er war Sprachrohr unserer Generation. Wir standen tagelang vor dem Theater,
in dem er aufgetreten war. Vor diesem Hintergrund muteten die Olympischen
Spielen wie eine fremde Feier während den Tagen der Volkstrauer an.
Eigentlich gingen sie uns nicht an. Überhaupt: Die Menschen haben damals
die Spiele nicht als ihre eigenen wahrgenommen. Das war etwas, was vom
Staat veranstaltet wurde und vom Einzelnen ganz weit weg war.
Wie ist das jetzt in Sotschi?
Das gilt heute noch mehr als 1980. Die Spiele finden an der Peripherie
statt. Sotschi gleicht jetzt [1][einem Hochsicherheitstrakt]. Die Menschen
wissen, dass die Vorbereitung der Spiele Unsummen gekostet hat und kostet,
dass normale Bürger da überhaupt nicht hinkommen. Auch wenn patriotisch
eingestellte Menschen sich über Siege ihrer Mannschaft freuen, so hat das
alles mit dem normalen Leben nichts zu tun.
Etwas Künstliches also?
Ich bin mir nicht sicher, ob das das richtiges Wort dafür ist. Die ganze
Region Sotschi wurde aus den Angeln gehoben, um ein Potemkinsches Dorf
aufzubauen. Olympia hat mit dem normalen Leben nicht das Geringste zu tun,
ja schlimmer noch: Die Spiele machen den Menschen das Leben noch schwerer.
Alle wissen doch, dass es in Sotschi Korruptionsfälle ungeheuren Ausmaßes
gegeben hat und große Summen Geldes veruntreut wurden. Viele werden
erleichtert aufatmen, wenn alles ruhig verläuft und endlich vorbei ist.
So richtige Sportbegeisterung will bei den Russen nicht aufkommen. Sie
jubeln allenfalls, wenn ihre Landsleute am Start sind. Woran liegt das?
Wenn die Bewohner Sotschis vor westliche Kameras treten, haben sie
schlichtweg Angst, ihre Meinung zu sagen. In der Region lebten viele vom
wilden Tourismus. [2][Sie vermieten Zimmer]. Für sie war Olympia wie ein
Tsunami, wie die Invasion einer fremden Macht. Ihr Leben wurde, ohne dass
sie jemand gefragt hätte, total umgekrempelt: Einschüchterungen,
Enteignungen, Umsiedlungen.
Wenn ich aber eine Handvoll geistesabwesender Zuschauer an der Piste im
Matsch stehen sehe, beschleicht mich ein Verdacht: Vielleicht sind dies
Angestellte, die von ihren Betrieben zwangsverpflichtet wurden? 1980
mussten verkleidete Wehrpflichtige halb leere Tribünen füllen. Ich frage
mich wirklich, ob wir es in Sotschi stellenweise nicht mit demselben
Phänomen zu tun haben. Wieso sollten diese Menschen jubeln und sich freuen?
Kann Olympia trotzdem einen positiven Effekt für die russische Gesellschaft
haben?
Die Gesellschaft hatte doch keinen Anteil an diesem außerirdischen Fest.
Ich glaube, das alles wird sehr schnell verpuffen.
Wird Präsident Wladimir Putin mit seinem Prestigeprojekt, so alles glatt
läuft, dennoch punkten können?
Immer mehr Menschen haben Putin satt. Derzeit steigt in Russland die
Inflation, nach Sotschi dürfte sich die wirtschaftliche Stagnation noch
verstärken. Der Kreml hat die Situation kaum im Griff. Er produziert
lediglich unentwegt Feindbilder: Schwule, Amerikaner, ukrainische
Faschisten.
Politische Beobachter spekulieren bereits darüber, dass Putin nach Sotschi
die Daumenschrauben wieder anziehen wird. Mit Recht?
Vor Sotschi hat Putin Gnade walten lassen. Gefangene wurden amnestiert,
[3][Michail Chodorkowski] sowie die beiden Aktivistinnen von [4][Pussy
Riot] freigelassen. Nach den Spielen von Sotschi könnte die Mildtätigkeit
wieder in Repression umschlagen. Erste Anzeichen gibt es schon. Nehmen Sie
den oppositionellen TV-Sender Doschd, der jetzt eingeht. Der freie Raum
wird immer enger.
Es wird immer mal wieder Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien
laut. Diese sei einseitig und viel zu negativ, heißt es. Sehen Sie das auch
so?
Dieses einseitige Bashing und dieses ewige Herumreiten auf den Mängeln an
Olympia stört mich auch. Die Spiele werden überhaupt nicht mehr als
Sportereignis wahrgenommen. Wie war das denn in China? Das ist ebenfalls
eine Autokratie, auch da wusste man beispielsweise nicht, wie viele
Menschen bei den Bauarbeiten ums Leben gekommen sind. Dennoch war der Ton
der Berichterstattung anders. Journalismus braucht eine reflektierte
Distanz zu diesen Ereignissen. Wozu braucht man denn dann noch Olympia,
wenn die Dinge nicht getrennt werden?
Aber sollte man denn nicht gerade anlässlich eines Ereignisses wie Olympia
stärker auf andere Aspekte jenseits des Sports, wie zum Beispiel
Minderheitenrechte, blicken?
Doch, aber ich glaube nicht, dass das viel bewirkt. Diese sogenannten
Ausnahmeregelungen für Homosexuelle in Sotschi – sie richten sich eher an
die westlichen Gesellschaften, haben vor allem symbolische Bedeutung. An
der Situation Homosexueller in Russland wird sich nichts ändern. Ich habe
Zeiten erlebt, als die Unterschrift unter einen Protestbrief von
Dissidenten über die eigene Freiheit entscheiden konnte.
Jede Unterschrift hatte Gewicht, das war eine politische Handlung. Jetzt
gibt es Petitionen am laufenden Band, die man online unterschreiben kann.
Das ist alles inflationär und eher symbolischer Art. Nein, Kräfte, um echt
etwas zu verändern, können nur aus der eigenen Gesellschaft heraus
entwickelt werden. Nicht von außen.
15 Feb 2014
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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