# taz.de -- Buch zur Geschichte des Meeres: Ist das Meer schön? | |
> Der Germanist Dieter Richter ergründet mit „Das Meer. Geschichte der | |
> ältesten Landschaft“ eine marine Kultur. Leider bleibt er | |
> eurozentristisch. | |
Bild: Aussicht ist nicht gleich Einsicht und der Blick aufs Meer ist nicht auto… | |
„Eine rohe, gestaltlose Masse, nichts als träges Gewicht“, so beschreibt | |
Ovid in seinen „Metamorphosen“ die amorphe Urmaterie, aus der einst Meer | |
und Land entstanden sein sollen. Mit der „Scheidung des Festen vom | |
Flüssigen“, wie der römische Dichter am Anfang unserer Zeitrechnung den | |
Ursprung der Welt umreißt, lässt der emeritierte Germanistikprofessor | |
Dieter Richter seine Geschichte des Meeres beginnen. | |
Als studierter Altphilologe und Theologe strukturiert Richter sein Werk | |
damit ziemlich genau nach den Kompetenzbereichen, die er beherrscht. | |
Hierfür zieht er neben römischen Schöpfungsmythen auch solche von | |
griechischen Dichtern und Denkern der Antike, aus der Bibel oder aus der | |
ägyptischen Kosmogonie heran. | |
An zahlreichen lebendig skizzierten kulturellen Zeugnissen zeigt der Autor, | |
wie sich Menschen zumeist in der abendländischen Tradition seit dem | |
Altertum mit dem Meer, sich selbst und Fragen nach Entstehen und Sein | |
beschäftigt haben. Hatte das Meer einen Anfang, und wird es ein Ende haben? | |
Wie ist das Salz ins Meer gekommen? Warum wird das Meer nicht voller, | |
obwohl alle Wasser in es hineinlaufen? Und schließlich: Ist das Meer schön? | |
Die Angst des Menschen vor der Urgewalt des Meeres behandelt Richter | |
genauso wie die Faszination, die von ihm ausgeht und die im Zeitalter der | |
Aufklärung bei Kant oder Schiller in der Ästhetik des „Erhabenen“ | |
verarbeitet wurde: das Meer als „großer Schauplatz der Freiheit“. | |
## Farbe der Sehnsucht | |
Dabei scheinen die kulturhistorischen Quellen, aus denen Richter schöpft, | |
mit Fortschreiten der behandelten Jahrhunderte immer dichter | |
beieinanderzuliegen. Zur Veranschaulichung des Schreckens, den die See für | |
die Menschen des Altertums geborgen haben mochte, greift der Autor noch | |
relativ weit aus auf babylonische Quellen wie die akkadischen Tontafeln von | |
Mari am Euphrat (ca. 1750 v. Chr.) oder das „Gilgamesch-Epos“ (vermutlich | |
im 3. Jahrtausend v. Chr. entstanden). | |
Schön liest sich hier der Blick aufs Meer mit „den Augen der Alten“ | |
(Fernand Braudel). Richter zeigt, wie die antike Todesfurcht vor dem schier | |
endlosen Wasser in Farbadjektiven der „Ilias“ und der „Odyssee“ zum | |
Ausdruck kommt. „Das Meer der ’Alten‘ trug düstere Farben“, „Grau“, | |
„Schwarz“, „Dunkelbraun“ oder „Weinfarben“. In der englischen Roman… | |
es hingegen mit Blau, der „Farbe der Sehnsucht, der Unendlichkeit und der | |
Poesie“, assoziiert. Die Veränderungen in der kollektiven Farbwahrnehmung | |
führt Richter auf eine sich ändernde Gefühlslage des Menschen zurück, die | |
sich auch in seiner Beziehung zum Meer niederschlägt. | |
Ob dunklere Farben wie Grau oder „Weinfarben“ schon immer mit einer | |
Semantik der Bedrohung verbunden waren, wie Richter dies annimmt, ist | |
allerdings zu hinterfragen. Dass das Verhältnis des antiken Menschen zu | |
großen Gewässern nicht ausschließlich von Furcht geprägt war, zeigt der | |
Abschnitt „Meerblick aus römischen Villen“. Hier steht die ästhetische | |
Auseinandersetzung mit dem Meer im Zentrum, wie sie lange vor der | |
Empfindsamkeitskultur des 18. Jahrhunderts stattgefunden hat. | |
Je näher die Neuzeit rückt, desto stärker verengt sich die Perspektive von | |
der über weite Strecken europäischen, um nicht zu sagen eurozentrischen | |
Sichtweise bis hin zum „deutschen Mittelmeer“ im 19. und 20. Jahrhundert. | |
Der 76-jährige Richter vermeidet dabei konsequent das Risiko, den | |
bildungsbürgerlichen europäischen Kanon von Literatur und Malerei zu | |
überwinden oder auch nur zu hinterfragen. Auch auf andere Gewässer als das | |
Mittelmeer wagt sich der Autor kaum. | |
## Die Deutschen markieren die Endpunkte | |
Dadurch konstruiert er in etwas altbackener Weise eine mitteleuropäische | |
Identität, die sich in direkter Linie auf die antiken Hochkulturen der | |
mediterranen Nordküste zurückführen lässt. Er folgt so einem | |
Geschichtsverständnis, das der US-Politikwissenschaftler Benedict Anderson | |
Anfang der achtziger Jahre mit dem Begriff der „Imagined Communities“ oder | |
„erfundenen Nation“ kritisierte. | |
Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die teleologisch wirkenden | |
Zeitsprünge zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit innerhalb eines | |
Kapitels oder sogar eines Abschnitts – in der chronologischen Ordnung | |
markieren fast immer die Deutschen den Endpunkt. | |
Obwohl das Buch den Untertitel „Geschichte der ältesten Landschaft“ trägt, | |
wird schnell klar, dass es Richter entgegen seiner einleitenden | |
methodischen Ausführungen tatsächlich nicht um eine topografische | |
Kulturgeschichte geht, wie sie etwa von David Abulafia gerade unter dem | |
Titel „Das Mittelmeer: Eine Biographie“ auf Deutsch erschienen ist. | |
Weder spielt die Alltagskultur der Bevölkerungsgruppen rund um das | |
Mittelmeer eine Rolle, noch stehen Ereignisse aus der Geschichte wirklich | |
im Zentrum. Manche Schilderungen werden zwar mit Fakten aus historischen | |
Quellen unterfüttert. Viel größeres Gewicht aber hat die See als | |
kunsthistorisches Motiv. Im Gegensatz zu Abulafia interessiert Richter also | |
weniger der Mensch rund ums Meer, als vielmehr das Meer im menschlichen | |
Zeichensystem. | |
## Blick aufs Meer ist nicht gleich Horizonterweiterung | |
Eine Ausnahme bilden die Passagen über die Insel als „klassisches | |
Laboratorium der Kultur“ bei der Begegnung des Eigenen mit dem Fremden. Das | |
negative Ergebnis eines solchen Laboratoriums sieht der Autor in der „Insel | |
auf der Insel“. Sie entsteht vor allem durch den Massentourismus aus | |
Deutschland nach Mallorca oder Capri und dem damit verbundenen Export der | |
deutschen Kultur wie Würstchen und Bier. Hier kann Richter überzeugend | |
darlegen, dass „der Blick aufs Meer nicht unbedingt auch | |
Horizonterweiterung schenkt“ und Imaginationen des Meeres aus der Ferne | |
bisweilen die zu bevorzugende Art der Aneignung darstellen. | |
Als produktive Kulturräume begreift der Autor Inseln aufgrund ihres | |
transitorischen Potenzials und des ständigen kulturellen Austauschs durch | |
Seefahrt, Handel oder Reise. Hierdurch trügen Inseln oft ausgesprochen | |
kosmopolitische Züge. Dies liege in ihrem Wesen begründet, das „zwischen | |
Isolation und Weltoffenheit, den konträren Polen von ’Archaismus und | |
Innovation‘ (Fernand Braudel)“ oszilliere. | |
## Bewährte Dichotomien | |
Die Tendenz, zur Erklärung von Entstehung, Entwicklung und Austausch wie | |
hier auf Dichotomien zurückzugreifen, zieht sich durch das gesamte Werk: | |
süß und salzig, fest und flüssig oder archaisch und innovativ. Oftmals | |
geben komplementäre Begriffspaare die Strukturen von Richters | |
Meeresgeschichte vor und lassen das, was sich zwischen den Polen als Kultur | |
abspielt, damit unterkomplex erscheinen. Ganz im kulturwissenschaftlichen | |
Trend liegt Richter nicht nur mit der Raumthematik, sondern auch mit | |
Diskursen über den Körper, die er etwa im Zusammenhang mit gesundheitlichen | |
Aspekten der Badekultur heranzieht. | |
So skizziert er die Entwicklung von der wasserfeindlichen Haltung des | |
Mittelalters unter anderem anhand der medizinischen Traktate des persischen | |
Arztes Ibn Sina (besser bekannt als Avicenna) und kommt über ein Revival | |
des Bades in der Renaissance zur Entwicklung der marinen Aquakultur im 18. | |
Jahrhundert mit dem Aufkommen der „Kurbäder“. | |
Richters Buch endet in Anlehnung an den „Ecocriticism“ mit einem kritischen | |
Ausblick auf die ökologischen Auswirkungen des menschlichen Umgangs mit der | |
Natur: Müllverschmutzung, Überfischung, Klimawandel. | |
Allerspätestens an dieser Stelle hätte sich die Leserin gewünscht, dass | |
auch mal Schriftsteller zu Wort kommen, die nicht wie Hemingway mit „Der | |
alte Mann und das Meer“ (1952) zum westlichen Standardrepertoire gehören. | |
Der große türkische Autor Yaşar Kemal beispielsweise schildert in „Zorn des | |
Meeres“ (1978) eindrucksvoll das Massaker an Delfinen durch geldgierige | |
Fischer im Marmarameer und hat sich in seinen Werken viel mit dem Meer | |
auseinandergesetzt. Er und andere hätten es verdient, wenigstens genannt zu | |
werden. Richters kulturgeschichtlicher Blick auf das Meer erscheint so | |
leicht redundant. | |
26 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Susanne Kaiser | |
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