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# taz.de -- taz-Serie Drogen und Gewalt in Mexiko: Das Morden und die Quote
> Sie müssen täglich über das Sterben berichten und werden selbst bedroht.
> Die Reporter von Ciudad Juárez berichten trotzdem weiter über die Morde
> der Kartelle.
Bild: Viel tun, um sich zu schützen, können die Journalisten in Ciudad Juáre…
CIUDAD JUÁREZ taz | Ihr Büro teilt sich Luz Sosa mit einem Grabmal. Ein
Schreibtisch, vertrocknete Blumen, ein uralter Computer. Darüber klebt ein
Porträtfoto, auf dessen Rand „El Choco is here“ geschrieben steht. „El
Choco“, das war Armando Rodríguez Carreón, Polizeireporter beim Diario de
Juárez; von zehn Kugeln erschossen am 13. November 2008. Er war der
Chronist des Drogenkrieges der nordmexikanischen Ciudad Juárez. Als El
Choco mit 40 Jahren starb, wurde Luz del Carmen Sosa Carrizosa seine
Nachfolgerin.
Die Journalistin hat am Morgen, wie stets, den Hintereingang der Redaktion
genommen. Jetzt sitzt sie an ihrem Schreibtisch im ersten Stock, die Decken
sind tief, das beige Neonlicht erinnert an TV-Serien aus den 80er Jahren.
„Das Schlimmste, was einem Reporter passieren kann, ist, über den Mord an
den eigenen Kollegen schreiben zu müssen“, sagt Sosa. Zwei Mal hat sie das
getan.
2007 begannen in Juárez die Auseinandersetzungen zwischen Mexikos größten
Drogenbanden, es ging um den Zugang zum amerikanischen Markt und die
Vorherrschaft in Mexiko. So war Ciudad Juárez bis vor Kurzem die Stadt mit
der höchsten Mordrate der Welt. 2 Millionen Einwohner hat die Stadt, 12.000
Menschen brachten die Kartelle hier um. Sechs davon waren Journalisten.
22 Monate nach Carreón traf es erneut einen Kollegen: Luis Carlos Santiago
Orozco. Mitten in der Stadt rammten Narcos das Auto des Fotografen und
erschossen ihn und seinen Beifahrer. Auf dem Rückweg von der Trauerfeier
erhielt Sosa einen anonymen Anruf. „Ich wurde zu einem Tatort gerufen.
Einem Mann war der Kopf abgeschnitten worden.“ Der Kopf lag auf einer
aufgeschlagenen Zeitungsseite mit Sosas Artikel zum Tod ihres Kollegen
Orozco. „Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte“, sagt Sosa. „Es hätte
heißen können: ’Wir haben euren Kollegen gerächt, dieser Mann hat ihn
ermordet.‘ Es hätte aber auch heißen können: ’Als Nächstes bist du dran…
## Die Erklärung ging um die Welt
Stunden später stellte Sosas Chef einen Brief auf die Homepage seiner
Zeitung. „Sehr geehrte Herren, die Sie um die Vorherrschaft in Ciudad
Juárez kämpfen, in weniger als zwei Jahren wurden zwei unserer Reporter
ermordet“, begann er. „Daher möchten wir Sie bitten, uns zu erklären, was
Sie von uns wollen. Wir möchten gern wissen, was wir Ihrer Meinung nach
veröffentlichen oder nicht veröffentlichen sollen.“
Die Erklärung ging um die Welt. [1][Auch die taz dokumentierte sie]. Es war
ein Aufschrei, eine Anklage von Präsident Felipe Calderón, dessen von den
Narcos unterwandertem Staat niemand mehr zutraute, dem Morden Einhalt zu
gebieten. Auch die Zeitungsleute von Juárez nicht. Und trotzdem: Verkaufen
Journalisten nicht ihre Seele dem Teufel, wenn sie im Gegenzug für erhoffte
Sicherheit die Mafia um Anweisungen bitten? Müssten sie nicht sagen: Unter
diesen Umständen können wir nicht arbeiten? Für Sosa ist das keine Option.
„Eine Gesellschaft braucht Informationen“, sagt sie. „Ich habe das zuerst
als Kapitulation gesehen. Aber wir mussten verstehen, was die Narcos von
uns wollten.“ Der Redaktionsleiter fügte daraufhin den Satz ein: „Das ist
keine Kapitulation.“ Auf eine Antwort warten die Journalisten bis heute.
„Trotzdem haben wir nie aufgehört zu arbeiten. Auch wenn es 20 Morde an
einem Tag gab“, sagt Sosa, „geschrieben haben wir über jeden einzelnen.“
Viel tun, um sich zu schützen, können die Journalisten nicht. „Wir fahren
immer im Konvoi. Manche tragen eine kugelsichere Weste. Ich nie“, sagt
Sosa. Sie setze auf Professionalität: sachlich schreiben, keine
Provokation.
## Nenne ja keine Namen
Strikt neutral über das Morden der Narcos zu schreiben? „Unmöglich“, meint
Rubén Villalpando. „Unsere Berichte helfen ihnen. Deshalb töten sie kurz
vor den Nachrichten. Und sagen uns vorher Bescheid.“ Am Morgen sitzt er mit
anderen Journalisten im Sanborns-Café. Jeden Tag treffen sich die Reporter
der fünf lokalen Tageszeitungen zum Frühstück. „Jeder hier am Tisch hat
Tausende Leichen gesehen“, sagt Villalpando. Seit 1979 ist der 62-Jährige
im Geschäft, er schreibt für die Agentur AFP und die Tageszeitung La
Jornada. „Es gab Tage, da habe ich Texte über 40 Tote rausgeschickt. Das
ist, als ob einem beim Schreiben das Blut von den Fingern tropft.“
Villalpando deutet in die Runde. „Wir hören alle den Polizeifunk ab.
Manchmal kommen wir an den Tatort, und die Mörder sind noch da. Wenn sie
dich sehen, das schafft Unsicherheit.“ Die Narcos wollen zwar, dass über
ihre Verbrechen berichtet wird – nur eben nicht zu konkret. „Schreibst du
ihren Namen, bist du ihr Feind.“
Es seien aber nicht die Narcos, die die Pressefreiheit in Mexiko am
stärksten bedrohen, sagt Villalpando. „Die Medien selbst sind die größte
Gefahr für ihre Unabhängigkeit.“ 10.000 Peso verdient der Reporter im
Monat, das sind umgerechnet 560 Euro. Dafür arbeitet er sieben Tage pro
Woche, Krankenversicherung und Urlaub gibt es nicht. „Ich verdiene nur so
viel, weil ich so lange schon dabei bin. Andere kommen auf 6.000 Peso, die
verkaufen nach ihren Interview noch Anzeigen an die Interviewpartner. Das
erwarten die Verlage sogar“, erklärt er. Klar, dass solche Journalisten für
Korruption anfällig seien. Die Lage immerhin habe sich im letzten Jahr
verbessert. „Das liegt aber nicht daran, dass der Staat sich durchgesetzt
hätte, sondern weil die Kartelle sich einig geworden sind.“
## Spezielle Medienlandschaft
Am nächsten Morgen ist dem Polizeibericht die Bilanz dieses Tages in
besseren Zeiten in Ciudad Juárez zu entnehmen: Unbekannte erschießen sechs
Männer und eine Frau.
Einen Tag später gibt Ernesto Jáuregui, der Sonderstaatsanwalt für
Frauenmorde, eine Pressekonferenz. Zehn Männer und zwei Frauen sollen für
das Verschwinden von mindestens 13 Frauen verantwortlich sein. Jáuregui
führt die Gefangenen nicht vor, die Kameraleute protestieren. Jáuregui
projiziert Polizeifotos auf eine Leinwand und liest die Namen vor, obwohl
noch nicht einmal Anklage erhoben wurde. „Diese Menschen haben die
verletzliche Lage junger, arbeitssuchender Frauen ausgenutzt“, sagt der
Staatsanwalt. „Sie haben sie zur Prostitution gezwungen, am Ende ermordet
und ihre Leichen im Valle de Juárez weggeworfen.“
In der Stadt hat sich in den letzten Jahren eine ganz besondere
Medienlandschaft entwickelt, spezialisiert auf grausame Polizeigeschichten.
Die Reporter leben in einer Symbiose mit den Mördern. „Die Menschen
fasziniert die Gewalt, und die Medien inszenieren sie“, erklärt
Villalpando. Ein Sender habe extra einen Satellitenwagen angeschafft, um
live von den Tatorten zu übertragen. „Manchmal zeigen sie zwischen 17 und
19 Uhr drei Viertel der Zeit Bilder von Toten. Sie schlachten den Krieg
aus. Das bringt Quote. Und es hilft den Verbrechern bei ihrem Ziel, ihre
Gegner einzuschüchtern.“ Ihm sind diese Dinge bewusst, ändern kann er sie
nicht.
Und so entsetzlich es ist, was der Staatsanwalt Jáuregui jetzt vorzutragen
hat, so wirkt es doch, als könnte es den Reportern gar nicht blutig genug
sein. „Einer der Festgenommen hat Jobs in seinem Schuhgeschäft angeboten.
Tatsächlich wurden Bewerberinnen an Zuhälter übergeben.“ Ein anderer habe
sogar eine Modelagentur gegründet, um hübsche junge Frauen zu fangen. „Sie
wurden mit Gewalt und Drogen gefügig gemacht, man drohte ihnen mit der
Ermordung der Familie. Irgendwann hat man dann sie selbst umgebracht.“ Die
Reporter schreiben ihre Blöcke voll.
## Kaum Strafverfolgung
„Das Töten kostet hier wenig. Niemand muss dafür bezahlen“, sagt Sosa. �…
verdammte Straffreiheit ist schuld an der Gewalt.“ Nur 4 Prozent der 12.000
Morde in Juárez haben zu einer Anklage geführt, Urteile gab es kaum. „Die
Opfer werden oft nachträglich als Kriminelle dargestellt. So rechtfertigt
der Staat seine Untätigkeit.“ Das habe nicht nur mit der Überlastung der
Polizei zu tun, sondern auch mit ihrer Angst vor den Narcos – und mit
Korruption. „Viele Einschüchterungen von Journalisten kommen von
Polizisten.“
45 Jahre ist Sosa alt, Mutter von zwei Kindern. „Machmal denkt man: Ich
kann nicht mehr. Aber dann ist es wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wieder
ein Tag geschafft.“ Warum tut sie sich das an? „Ich habe mich entschieden,
Reporterin zu sein, und werde es bleiben.“
2011 hat Sosa den Journalistenverband von Juárez gegründet. Im selben Jahr
lud die Heinrich-Böll-Stiftung sie zu einer Konferenz nach Berlin ein. „Es
war herrlich. Keine Polizeisirenen.“ Ein Jahr später hat Mexiko ein Gesetz
zum Schutz von Journalisten erlassen. Es gibt ihnen ein Recht auf Schutz
bei Bedrohung, stärkt aber nicht die Strafverfolgung. Trotzdem gilt es als
kleiner Erfolg der Zivilgesellschaft.
Ein Leben wie ihres, sagt Sosa, sei nur zu ertragen, „wenn man seine
Grenzen kennt“. Man muss sich zurückziehen können, bevor einen die Gewalt
überwältigt. So wie am Vortrag. Die Überreste von Berenice Beatrice, einem
jungen Mädchen, wurden zu Grabe getragen. Als Berenice vor vier Jahren
verschwand, kam die Mutter zu Sosa. Die ganze Zeit begleitete Sosa sie bei
ihrer verzweifelten Suche. Als sie und andere Mütter verschwundener Mädchen
sieben Tage durch die Wüste liefen, um in der 360 Kilometer entfernten
Landeshauptstadt Chihuahua gegen die Untätigkeit der Polizei zu
demonstrieren, kam Sosa mit. „Irgendwann man macht sich gemeinsam
Hoffnung.“ Bis letzte Woche. Da kam das Ergebnis einer DNA-Untersuchung von
Knochen, die in der Wüste gefunden waren. „Eine Kollegin musste die Mutter
am Telefon befragen. Ich kannte sie mittlerweile zu gut.“ Zur Beerdigung
ging Sosa nicht.
31 Mar 2014
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## AUTOREN
Christian Jakob
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