# taz.de -- Frauen im syrischen Aufstand: Rebellieren mit Leichtigkeit | |
> Was ist erlaubt, was ist verboten? Das fragen sich die Frauen, die in | |
> ihrem Dorf die Revolution nicht den Männern überlassen wollen. | |
Bild: Verschleierte Frauen in der Provinz Raqqa, die von der Organisation „Is… | |
BEIRUT taz | Alles hat sich verändert, seitdem ich zum ersten Mal selbst | |
den Ruf nach Freiheit ausstieß: „Allah – Syrien – Freiheit – Und nichts | |
weiter!“ Es war nicht leicht, rauszugehen, wegen der Angst, die da ist, | |
seit ich geboren wurde. | |
Nach diesem Ruf haben sich alle Dinge verändert: Die Gesichter der Kinder, | |
die Geschichtsbücher, sogar die Straßenschilder und Ampeln. Was ist erlaubt | |
und was ist verboten?! Ich sehe die Dinge nicht mehr so, wie sie einmal für | |
mich Sinn ergaben. Mein erster Ruf nach Freiheit glich einem Geburtsschrei, | |
nachdem ich in einer dörflichen Gesellschaft gelebt hatte, in der die | |
Frauen nur zwei Rollen hatten: die Hausarbeit machen und die Kinder | |
erziehen. | |
Von der Schule zogen die Frauen oft direkt in das Haus ihres neuen Ehemanns | |
und hörten so schon Anfang zwanzig auf, zu lernen. Mein Glück war es, dass | |
mein Vater mir es erlaubt hatte, die Universität zu besuchen, was für viele | |
Frauen in meinem Land keine Selbstverständlichkeit war. | |
Die syrische Revolution begann und mit ihr erschallte der erste Ruf nach | |
Freiheit in meinem Dorf. Ich habe ihn gehört, ich war ganz nah dran. | |
Gemeinsam mit meinen Freundinnen beobachtete ich, wie die Männer ihn | |
herausschrien. Wie sehr wünschte ich mir, mit ihnen dort zu stehen! Ein | |
Wunsch, den viele Frauen teilten. Doch die meisten Männer wollten ihren | |
Frauen nicht erlauben, aus dem Haus zu gehen und an den Demonstrationen | |
teilzunehmen, sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg zu machen. Denn in | |
unserer Gesellschaft hatte man sich an die Trennung von Männern und Frauen | |
in allen Bereichen des Lebens gewöhnt. | |
## „Geht zurück nach Hause!“ | |
Fünf Frauen: Das war die erste Frauendemo in meinem Dorf in Ost-Ghouta bei | |
Damaskus. Wir zogen Kleidung an, die unseren gesamten Körper bedeckte, | |
hüllten uns in weite Jalabiyas, und verschleierten auch unsere Gesichter. | |
Wir hatten Angst vor unseren Verwandten, deswegen gingen wir derart | |
vermummt zur Demonstration. Und die Angst, einer unserer Bekannten oder | |
Verwandten könnte uns erkennen, war weit größer als die Angst davor, dass | |
das Regime unsere Identität kennen würde. | |
Wir gingen zum Platz, auf dem die Männer seit Wochen demonstrierten. | |
Verschiedene Sätze drangen zu uns durch. Manche davon waren verurteilend: | |
„Ihr seid Frauen, was ist in euch gefahren, dass ihr hierher kommt?! Geht | |
zurück nach Hause!“ Andere hießen uns willkommen: „Gott schütze euch.“ | |
Viele Gespräche drehten sich damals um unsere Teilnahme an der Demo. Sie | |
wühlte den erstarrten Sumpf unserer kleinen Gesellschaft auf. Wir gingen | |
wieder und wieder zu den Demonstrationen und immer sprachen die Männer über | |
„die Frauen, die zur Demo gegangen sind“. | |
Unser Handeln bestimmte ihren Diskurs für eine lange Zeit. Mein Bruder | |
sagte mit ganz ungewohnter Leidenschaft: „Ich habe heute verschleierte | |
Frauen gesehen, die an der Demo teilgenommen haben!“ Ich lachte im Stillen, | |
im Wissen darüber, dass ich zu ihnen gehörte. „Ja, ich gehöre zu ihnen. Ja, | |
ich bin eine diese Frauen.“ | |
## Konservativ geprägte Dörfer | |
Alles, was auch ich in 25 Jahren vermittelt bekommen habe an festgefahrenen | |
und vorgefertigten Werten und Ideen, haben wir wie ein Vermächtnis geerbt. | |
Wir erbten Tabus und mit ihnen Stillstand und Apathie. Vor der Revolution | |
haben wir nicht über diese Tabus nachgedacht, doch jetzt ist alles anders: | |
Seit Beginn der Revolution kann all das zerschlagen werden, denn viele | |
haben die Grenze der Angst überschritten. Gegen alles, was sich uns nach | |
diesen ersten Freiheitsrufen entgegenstellte, konnten wir auf einmal mit | |
Leichtigkeit rebellieren. | |
Die meisten religiösen Führer, denen wir geglaubt hatten, waren zum | |
Beispiel anfangs nicht Teil der Bewegung, die die Freiheit des Menschen und | |
den friedlichen Protest forderte. Gleichzeitig schlossen sich geistliche | |
Persönlichkeiten der Bewegung an, die sich nicht entsprechend ihrer | |
Prinzipien benahmen. So kam es, dass wir auf den Mauern unseres konservativ | |
geprägten kleinen Dorfs Sätze lasen wie „Stürzt die Geistlichen der | |
Revolution!“ | |
Das war eine großartige Entwicklung in einer Stadt, die alles religiöse | |
Gebaren verehrt hatte. Eine Stadt, die zwischen Männern und Frauen | |
unterschied, und in der wir mit der Teilnahme an Demos nur einen kleinen | |
Raum für uns zu entreißen versucht hatten. Dieser Raum wurde immer größer, | |
wir leisteten humanitäre Arbeit und wurden Aktivistinnen – und für die | |
Männer wurde es immer schwieriger, auf uns zu verzichten. Männer und Frauen | |
begannen zusammenzuarbeiten. Und keiner kommentierte das mehr abwertend. | |
Dieses Wohlwollen gegenüber einer früher verurteilenswerten Entwicklung war | |
Wohlwollen gegenüber der Idee eines neuen Staats. Ein Staat, der über der | |
Trennung der Geschlechter und der Gewohnheit und der Tradition steht. | |
## Die Freiheit, zu denken und zu arbeiten | |
Unsere Werte haben sich geändert. Frauen haben an der friedlichen Bewegung | |
teilgenommen und hart im Bereich der humanitären Hilfe gearbeitet. Sie sind | |
Führerinnen der Zivilgesellschaft geworden, nach Jahren in denen ihre | |
einzige Rolle darin Bestand, schwanger zu werden und Kinder zu gebären. | |
Von Ost-Ghouta aus, von einem Dorf aus, dessen Einwohner Zahl nicht mehr | |
als 12.000 Menschen beträgt, haben sich die Frauen auf die existentielle | |
Suche nach ihrer Identität als Mensch in diesem Leben gemacht. Die | |
Identität, die ihnen die Jahre politischer Unterdrückung genommen hatten. | |
Mir gab die Revolution zurück, was mir im Leben davor geraubt worden war. | |
Und danach entriss ich ihr auch die Freiheit, zu denken und zu arbeiten. | |
Ich kann bestätigen: Revolutionen bewegen sich nicht nach hinten, sondern | |
nach vorn! | |
6 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Rana Al Nabki | |
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