Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: In Zeiten der Plurale
> Doppelt gemoppelt: Der inflationäre Gebrauch der Mehrzahl stört und führt
> zu nervender Unklarheit und fehlender Präzision.
Bild: Macken im Blätterwald: Wer viel schreibt, kann auch viele Fehler machen.
„O tempora, o mores“, jammerten die Römer. „Wirklich, ich lebe in finste…
Zeiten“, klagte Bertolt Brecht. Keinem kam es in den Sinn, dass der präzise
Singular ausgereicht hätte, sei die Zeit nun finster oder vom Sittenverfall
geprägt. Der Plural aber bezeichnet eine nicht klar umrissene Menge, passt
irgendwie immer und heute besonders.
Weil wir eine pluralistische Gesellschaft haben, haben wir eine ebensolche
Sprache und kennen „Realitäten“ und „Wahrheiten“. Ökonomen erhoffen s…
diffuse „Zuwächse“ auf ominösen „Märkten“ und befürchten irgendwelc…
„Rückgänge um 300 Millionen Euro“ (t-online.de), derweil die Leute vage
„Ängste“ hegen, selbst wenn das Leben „ohne existenzielle Nöte“ (Phoe…
verläuft.
Im Sport leistet sich ein Verein gleich mehrere „Saisonvorbereitungen“
(Dietrich Schulze-Marmeling in seiner Pep-Guardiola-Biografie), während ein
Veranstalter schleppende „Kartenvorverkäufe“ beklagt (Matthias von Arnim in
seinem Fußballroman „Piagnolia“). In der Politik wurden einst „die
Widerstände der Westdeutschen gegen die Wiederaufrüstung“ gebrochen
(Phoenix); heute fordert Israel wegen der Bespitzelung seiner Politiker
„Erklärungen von den USA“, und die SPD-Politikerin Bärbel Kofler verlangt
für die Entwicklungshilfe sage und schreibe gar „Aufwüchse“.
Kein Einzelfall. „Bald gibt’s Nachtfröste!“, warnt wohlmeinend besorgt d…
Prospekt eines Gartenbaumarkts die Hobbygärtner. „Wochenlang Kräche“ gab …
zwischen dem einstigen FC-Bayern-Manager Uli Hoeneß und Trainer Udo Lattek,
woran Christoph Bausenwein in seiner Hoeneß-Biografie erinnert; das
WWF-Magazin prophezeit: „2030 braucht die Menschheit zwei Erden, um ihre
Bedarfe zu decken“ – und heute schon solche Plurale!
„Ein Mensch, der nie Deutsch studiert hat, kann sich keine Vorstellungen
davon machen, wie kompliziert diese Sprache ist“, soll Mark Twain in seinem
Aufsatz über „Die schreckliche deutsche Sprache“ geschrieben haben. In
Wahrheit gibt der Satz nur eine Vorstellung von der Fähigkeit seines
Übersetzers Werner Pieper im Jahr 2010, die schreckliche deutsche Sprache
noch schrecklicher zu machen – wahrlich, wir leben in einer finsteren Zeit!
Beziehungsweise in Zeiten, in denen die Bedarfe nach Pluralen Aufwüchse der
Unbestimmtheit und Unverbindlichkeit erzeugen. Offenbar haben viele Leute
„Schwellenängste“ (taz), die eine Sache oder den einen Sachverhalt,
womöglich ein Unding oder einen Tatbestand klar zu benennen, die
Einzelheiten zusammenzufassen und auf den Begriff zu bringen. Außerdem
erspart der Wischiwaschi-Plural Mühe: Klarheit und Genauigkeit würden
Sprach- und Denkarbeit erfordern.
Arbeiten aber muss der Mensch anderswo genug. Zudem erlebt er Tag für Tag
in Beruf und Privatleben, dass es keine einfache Wahrheit gibt und die
Realität je nach Standpunkt anders aussieht, zu schweigen von den vielen
„Mächten“ und „Zwängen“, denen er sich unterworfen weiß. Diese Erfah…
mag im Hintergrund der Plural-Inflation stehen.
Wer sich allerdings nicht mit einer bloßen Erfahrung begnügen möchte,
sondern ihr eine Erkenntnis abgewinnen will, sollte darüber nachdenken, was
für Mächte und Zwänge es sind; sowie darüber, ob es zwischen ihnen und
schwammigen Pluralen „irgendwelche Zusammenhänge“ (Bausenwein, siehe oben)
gibt und wem es nutzt oder schadet, wenn sie unbenannt bleiben. Innerhalb
der Grammatik allerdings gibt es, statt irgendwelcher einen klar
bestimmbaren Zusammenhang.
Jedoch nicht für die Edition Moderne: „Die Vorteile des Comics als
interpretierendes Medium besteht darin, dass er erlaubt, die Grenzen des
traditionellen Journalismus zu sprengen.“ Die Nachteile des Plurals
hingegen bestehen darin, dass sie vom Verb eine Pluralform verlangen; und
aufmerksame Leser haben gemerkt, dass beide Male nur ein Vor-
beziehungsweise Nachteil genannt wurde.
Die Fehlerursache liegt wahrscheinlich darin, dass das letzte Substantiv
vor dem Verb im Singular steht. „Fakten und Fiktion – auf diese Mischung
springt Medien und Öffentlichkeit an“, behauptet demgemäß die taz, und auf
die Mischung von Subjekt im Plural und Verb im Singular setzt auch Manuela
Schwesig, die „eine Zeit, in der Beruf und Familie vereinbar ist“,
anstrebt. Dann gibt es Substantive, die semantisch eine Mehrzahl
bezeichnen, aber grammatikalisch im Singular stehen. Außer
befremdlicherweise im Duden, in der taz („Nur ein Drittel der befragten
Autokäufer haben das Öko-Label überhaupt gesehen“) und auf NDR Info, wo man
über die Bahn erfährt, dass „die Hälfte der Streckenwärter in Urlaub sind…
Möglicherweise denken die Verfasser sogar zu viel (ein Drittel kann eine
Menge sein); meist aber zu wenig, weshalb sie schon nach wenigen Worten
vergessen, was sie gesagt oder geschrieben haben.
Daher wirbt ein Berliner Restaurant damit, es widme sich „den knusprigen
Röstis und der Vielfalt, womit er angeboten werden kann“. Noch besser macht
es ein Journalist, der in der Zeitung Kontext diesen herrlichen Satz
fabrizierte: „Die Bewegung gegen Stuttgart 21 durchläufen eine schwierige
Phase.“ Wie mag es mit den Pluralen in den Zukünften weiterläufen?
9 Apr 2014
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Sprachkritik
Deutsche Sprache
Sprachkritik
Europawahl
Schwerpunkt AfD
Zeitungssterben
Justiz
Sprache
deutsch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Nahetige
Journalisten und Texter sollen komplexe Sachverhalte verständlich
darstellen. Bisweilen erreichen sie im Ringen mit der Sprache aber das
Gegenteil.
Die Wahrheit: Erretter der Untoten
Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Bernd „Der Prof“ Lucke
und seine Partei der Wirtschafts-Troglodyten.
Die Wahrheit: Der Durchblicker
Schurken, die Welt beherrschen wollen. Heute: Hans-Olaf „Heiland“ Henkel
und seine Dauerpredigt von Wachstum, Wettbewerb und Wirtschaft.
Die Wahrheit: Der Span des Lebens
Die aktuelle Zeitungskrise aus der ganz persönlichen Sicht eines
Spanplattenproduzenten.
Die Wahrheit: Höckerfreie Kamele
Globale Rechtsberatung bei der Wahrheit: Warum Sie in Turkmenistan
unbedingt Eierkuchen, in Gambia aber Stühle meiden sollten.
Die Wahrheit: Noch und nöcher
Das Eigenleben der Flick- und Füllwörter im Deutschen führt dazu, dass es
immer wieder zu erheblichen Karambolagen kommt.
Die Wahrheit: Ze doitche Lenguetsch
Anglizismen sind nicht jedermanns Tasse Tee. Zumal der englische Playground
im deutschen Garten auf immer seltsamere Art beackert wird.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.