# taz.de -- Die Wahrheit: Die Nahetige | |
> Journalisten und Texter sollen komplexe Sachverhalte verständlich | |
> darstellen. Bisweilen erreichen sie im Ringen mit der Sprache aber das | |
> Gegenteil. | |
Bild: Macken im Blätterwald: Wer viel schreibt, kann auch viele Fehler machen. | |
„Ein Lichtbild als Eindruck der Wahlplakatiererei fast überall.“ | |
„Handschriftliche und private Einträge treffen auf den nüchternen Blick auf | |
ein Machtsystem.“ „Klassen werden durch Staffagen erzählt.“ Sowie: „Co… | |
als Parodien der Vorstellung eines Originals.“ | |
Wenn Sie bei diesen Zitaten aus der taz, ihrer Nordausgabe und einer | |
Rezension im Göttinger Stadtmagazin pony bloß Bahnhof verstehen, so ist mit | |
Ihrem Verstand alles in Ordnung. Was die ersten drei Zitate bedeuten, weiß | |
niemand. Das letzte meint: Der Glaube, es gebe Originale, wird in den | |
anschließend rezensierten Comics aufs Korn genommen. | |
Im Gespräch muss man’s nicht krumm nehmen, wenn einer sich vergaloppiert. | |
Anders bei Geschriebenem, das sich korrigieren ließe, bevor fremde Augen es | |
zu sehen bekommen. Freilich hilft das nicht immer. | |
Bei Wikipedia zum Beispiel gibt es Leute, die die Lexikonartikel | |
gegenlesen. Irgendjemand ließ also den Beitrag passieren, in dem es über | |
Guttenbergs Doktorarbeit heißt, sie sei dreimal rezensiert worden, die | |
dritte Rezension „verfasste Alexander Camann für die FAZ vom 18. März 2009. | |
Er beschränkte seine Kritik auf einen ironischen Kommentar zum Vorwort der | |
Dissertation, welche Guttenberg dort ein Produkt beklagenswerter Eitelkeit | |
genannt hatte“. Die Dissertation nannte Guttenberg selbst ein Produkt | |
seiner Eitelkeit? Dolle Sache! | |
## Wer viele Sprachen spricht, kann in vielen Sprachen Unsinn reden | |
Die andere Möglichkeit, dass der Rezensent in seiner Kritik das Vorwort ein | |
Produkt von Guttenbergs Eitelkeit nannte, kann ausgeschlossen werden, sonst | |
hätte der Wikipedia-Autor diesen einfachen Gedanken sicherlich ausgedrückt. | |
Indes: Einfache Sachverhalte einfach auszudrücken ist mitunter eine schwere | |
Kunst, gerade in der taz. | |
Dort buht bei einem Konzert nicht ein Teil der Zuschauer, sondern „eine | |
hörbare Menge an Publikum unter den 12.000 Zuschauern buhte“; oder es wird | |
in der Vorschau auf eine Wahl in Hinsicht auf zwei Parteien gewünscht, dass | |
„beide Listen gegenseitig voneinander Wähler klauen“, weil sie gegenseitig | |
voneinander, quatsch: weil sie einander so ähnlich sind. Schön, wenn eine | |
große Menge an Publikum unter den Lesern das auch so sieht! | |
Wer viele Sprachen spricht, kann in vielen Sprachen Unsinn reden, sagte | |
Karl Kraus. Wer täglich viel schreibt, kann täglich viele Fehler | |
produzieren. Über Fehler, die das Verständnis nicht erschweren oder | |
unmöglich machen, lässt sich hinwegsehen; in der Regel liest man sowieso | |
über sie hinweg. „Renault-Nissan verfehlt sein Absatzziel deutlich. Schuld | |
sei die mangelnde Infrastruktur, heißt es. Zum Beispiel fehlen Ladesäulen. | |
Aber wichtige Probleme der E-Mobilität sind noch lange nicht gelöst“, heißt | |
es in der taz. Über den Fehler hier haben Sie aber nicht hinweggesehen? Er | |
besteht darin, dass die taz wunderlicherweise zwischen fehlenden Ladesäulen | |
und den Problemen der E-Mobilität einen Gegensatz erblickt. | |
## Verrutschte Sätze | |
Leicht verrutscht ist auch der folgende Satz: „Sein bedeutendstes Werk ist | |
eine Sammlung von 6.000 Seiten persönlicher Aufzeichnungen“, schreibt das | |
Arte-Magazin in einem Leonardo-da-Vinci-Porträt, obwohl es sich statt um | |
ein Werk um eine Hinterlassenschaft, einen Nachlass handelt. Hier könnte | |
ein Formulierungsproblem vorliegen, doch hat sich der Verfasser die Frage | |
gar nicht gestellt, was man statt „Werk“ sagen kann oder ob der Gedanke | |
anders ausgedrückt werden sollte (etwa: „Am bedeutendsten ist eine Sammlung | |
von 6.000 Seiten persönlicher Aufzeichnungen“), denn der Text knödelt | |
weiter: „Dank der einmaligen Gelegenheit, in den Codex Atlanticus, das | |
größte Werk seiner Aufzeichnungen, Einsicht nehmen zu können, werden | |
Leonardos Ambitionen deutlich“ – sowie die Fähigkeit des Autors, den „Co… | |
Atlanticus“, die größte Sammlung von Leonardos Skizzen, Zeichnungen und | |
Studien, treffend zu benennen. | |
Es ist schwer, keine Satire zu schreiben, schrieb Juvenal. Es ist schwer, | |
keine Fehler zu machen, kann man über die Sprache sagen. Leichter ist es, | |
sich über die Fehler zu mokieren: Eingestandenermaßen schweben | |
Sprachkritiker immer in der Gefahr, es zu übertreiben, und können deshalb | |
froh sein, wenn sie einen derart grotesken Fehlgriff entdecken, dass kein | |
Anwalt der Welt den Täter raushauen könnte. | |
In einem Roman, für den Buch aktuell einst warb, ging es um eine Frau, die | |
dem Hungertod nah war. Was schreibt man in den Klappentext? „Sie, die dem | |
Hungertod nah war“ wäre einfach und richtig. „Die einst dem Hungertod Nahe… | |
wäre auch möglich, klänge aber gekünstelt. Was fällt folglich dem | |
Werbetexter ein? „Die einst dem Verhungern Nahetige“. Voilà, Tableau und | |
aus! | |
11 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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