Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Geschlechtliche Vielfalt im Unterricht: Toleranz statt Sex
> Schüler in Baden-Württemberg sollen lernen, was sexuelle Vielfalt ist.
> Klerikale Gruppen toben. Nun nimmt Grün-Rot einen Schleichweg.
Bild: Erfolgreicher Protest: Gegner des grün-roten Bildungsplanes demonstriere…
STUTTGART taz | Rosa oder Blau, so sieht Kindererziehung für die rund 600
Teilnehmer der dritten Demonstration gegen den Bildungsplan in
Baden-Württemberg aus. Mit Luftballons in Rosa oder Blau zogen sie am
vergangenen Wochenende wieder durch Stuttgart, geschützt von 500
Polizisten. Sie wollen ihre Kinder schützen vor dem Monster
„Frühsexualisierung“, das in schleimigem Grün auf ein Demoschild gemalt
war. Seit drei Monaten tobt der Protest, weil an baden-württembergischen
Schulen ab 2015 „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ gelehrt werden soll.
Bislang hielt die Landesregierung selbstbewusst dagegen. Am Dienstag nun
die Überraschung: Grün-Rot rückt davon ab, dass „Akzeptanz sexueller
Vielfalt“ als Querschnittsthema in allen Fächern in den Bildungsplan
aufgenommen werden soll. Die Regierungskoalition präsentiert dafür jedoch
eine neue Idee: Die bislang fünf Leitprinzipien im Bildungsplan sollen in
Leitperspektiven umbenannt und um eine sechste Leitperspektive ergänzt
werden.
Deren Titel lautet „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“. Unter
dieser Überschrift soll Toleranz nicht nur gegenüber homosexuellen, bi-,
trans- und intersexuellen Menschen gelehrt werden, sondern auch gegenüber
der sozialen Herkunft, Religion, Kultur oder Ethnie von Menschen. Ob das
nun Schwächung oder Stärkung der ursprünglich geplanten Erziehung zur
Akzeptanz sexueller Vielfalt ist, wird unterschiedlich ausgelegt.
Angefangen hat alles mit einem Arbeitspapier zum Bildungsplan, das Ende des
vergangenen Jahres an die Öffentlichkeit gelangt ist. Auf 32 Seiten wurde
27 Mal der Wortbestandteil „sex“ benutzt, was die Wogen hochschlagen ließ:
Der Realschullehrer Gabriel Stängle aus dem Nordschwarzwald störte sich an
der „Überbetonung“ der sexuellen Vielfalt und verfasste eine Petition:
„Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens.“ Gut 190.000
Menschen unterschrieben seine Forderung.
Der Protest schwappte im Februar aus dem Netz auf die Straße, seitdem gibt
es monatliche Demonstrationen. Auf der einen Seite all jene, die für ein
weltoffenes Baden-Württemberg stehen, Lesben- und Schwulenverbände. Auf der
anderen Seite evangelikale Christen, „besorgte Eltern“, wie sich eine
Initiative nennt, ein Sammelsurium derer, die gegen die grün-rote Regierung
kämpfen, darunter die AfD und rechtspopulistische Redner, bisweilen aber
auch CDU und FDP.
Die jubilieren nun. CDU-Fraktionschef Peter Hauk sieht „ein erstes Zeichen
dafür, dass die Regierung zurückrudert, weil offenkundig wird, dass sie mit
ihrem einseitig ideologischen Kurs nicht durchkommt“. Proteste von Eltern
und der Gegendruck der Opposition hätten nun nicht länger überhört werden
können. „Allerdings ist es ratsam, auf der Hut zu bleiben, denn eine
kosmetische Änderung des Leitprinzips ist noch kein Kurswechsel im
Bildungsplan“, sagt Hauk. Die CDU wolle wie viele Eltern nicht, dass
„Akzeptanz sexueller Vielfalt“ alleingestellt und ausschließlich
stattfinde, sondern um andere Toleranzbegriffe erweitert werde. So gesehen
war sie erfolgreich.
## Bewusst Missverständnisse geschürt
Grün-Rot betont derweil, dass die Regierung keinesfalls zurückgewichen sei.
Das Thema „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ behalte seinen hohen Stellenwert,
sagt Kultusminister Andreas Stoch.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) will mit der
Umstrukturierung des Bildungsplans „vor allem denjenigen den Boden
entziehen, die bewusst Missverständnisse geschürt haben“. Er wiederholt:
„Ich möchte noch einmal explizit darauf hinweisen, dass es bei der
sexuellen Vielfalt nicht um sexuelle Praktiken geht.“
Stängle, der Initiator der Petition, sagt, er sei erfreut darüber, dass
seine Sichtweise von der Politik aufgegriffen wird: „Als
Petitionsinitiative war es uns von Anfang an wichtig, dass sich die
„Leitprinzipien“ gegen alle Formen der Ausgrenzung richten und nicht nur
eine Interessengruppe überbetont wird.“ Er werde die Landesregierung weiter
kritisch beobachten. Änderungen könne er erst dann beurteilen, wenn sie
schriftlich vorlägen.
## Evangelische Landeskirche ist froh
Der Sprecher der Evangelischen Landeskirche, Oliver Hoesch, sagt: „Wir sind
froh, dass die Landesregierung unsere und andere Kritik aufgenommen hat.
Unser Ziel ist nach wie vor, dass der Bildungsplan in der Breite der
Gesellschaft Akzeptanz findet.“ Bei der Umsetzung herrsche nun aber
immenser Zeitdruck.
Die Lehrergewerkschaft GEW sieht kein Einknicken von Kretschmann und Co.,
sondern begrüßt die Änderung. Die GEW habe schon im Frühjahr 2013
gefordert, dass Akzeptanz sexueller Vielfalt als gesonderte Kompetenz
ausgewiesen wird und nicht unter dem Leitprinzip „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ steht, sagt die Landesvorsitzende Doro Moritz. Sie sei
enttäuscht, dass die Politik nicht früher auf die GEW gehört habe. Durch
die Strukturänderung sei der Termin 2015 für die Einführung des
Bildungsplans nicht zu halten. „Es kann nicht anders sein, als dass es zur
Verschiebung um ein Jahr kommt.“
Wie oft im nächsten Arbeitspapier zum Bildungsplan das Wort „sex“ vorkommt,
darf mit Spannung erwartet werden.
9 Apr 2014
## AUTOREN
Lena Müssigmann
## TAGS
Bildung
Sexuelle Vielfalt
Baden-Württemberg
Sex
Regenbogenfamilie
Leihmutter
Grüne
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Bildung
Religion
Bildung
Ehe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gene beeinflussen Alter beim „ersten Mal“: Frühzünder oder Spätzünder?
Laut einer Studie wird das Alter beim ersten Sex nicht nur von sozialen und
kulturellen Faktoren geprägt – sondern zu rund 25 Prozent auch von den
Genen.
Kommentar Schwules Väterpaar: Kind statt Ideologie
Eine fast revolutionäre Entscheidung des BGH: Nicht das traditionelle
Familienbild entscheidet, wer Eltern sind, sondern das Kindeswohl.
Bundesgerichtshof zu Doppelvaterschaft: Wunscheltern legalisiert
Das Gericht erleichtert die Elternschaft mit Kindern, die im Ausland von
Leihmüttern ausgetragen wurden. Geklagt hatte ein homosexuelles Paar.
Kolumne Die eine Frage: Der Mehrheitsgrüne
Warum ist Ministerpräsident Winfried Kretschmann überall in Deutschland
hoch angesehen – außer bei den Bundes-Grünen?
„Sexuelle Vielfalt“ in Baden-Württemberg: Aufschrei der Konservativen
Das aufklärerische Projekt ist nicht storniert, nur eingebettet. Das ist
viel wert. Doch der Protest gegen die Kritiker ist zu zahm.
Aktivst über Bildungsplan in BaWü: „Wir werden damit sichtbar“
Christoph Michl vom CSD Stuttgart über sexuelle Vielfalt, sein Gespräch mit
Ministerpräsident Kretschmann und warum Lehrer sich nicht mehr wegducken
können.
Kultusminister über Bildungsplan BaWü: „Eingeknickt ist niemand‘“
Sexuelle Vielfalt wird an Schulen künftig verbindliches Thema, verspricht
Kultusminister Andreas Stoch (SPD). Aus seiner Sicht ist die Debatte nun
versachlicht.
Kommentar Bildungsplan in Ba-Wü: Sie können auch Vielfalt
Kretschmann will den Bildungsplan-Entwurf erweitern. „Vielfalt“ beziehe
sich nicht nur auf Sex, sondern auch auf Religion und Herkunft. Das ist
klug.
Diskussion um „sexuelle Vielfalt“: „Ich will nicht erduldet werden“
Auf Einladung der taz diskutierten Minister, Kirche und Homosexuelle über
den Bildungsplan in Baden-Württemberg, der nun überarbeitet wird.
Bildungsplan in Baden-Württemberg: „Intolerantes und respektloses Klima“
Am Samstag wird erneut gegen sexuelle Vielfalt als Thema im Unterricht
demonstriert. Winfried Kretschmann bemüht sich um Deeskalation.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.