# taz.de -- 1 Jahr nach Fabrikeinsturz in Bangladesch: Die Traumafabrik | |
> Wo das Rana Plaza stand, befindet sich heute nur Schutt. Ein Rundgang mit | |
> dem Überlebenden Milon, der wie 2.500 andere noch immer auf Entschädigung | |
> wartet. | |
Bild: Familie Miah mit einem Bild ihrer beim Einsturz des Rana Plaza getöteten… | |
SAVAR taz | Ein Jahr danach ist der Schutt immer noch da. Berge davon. Aus | |
dem Grundstück, auf dem das Rana Plaza stand, ist eine kleine | |
Hügellandschaft geworden. Eingequetscht zwischen den Betonklötzen sind die | |
bunten Stofffetzen zu sehen, die hier im Akkord vernäht wurden. Maßbänder, | |
Etikette und Bestellscheine – als stünde die Zeit still. Nur die Bagger | |
sind weg, mit denen vor elf Monaten die Leichen freigeschaufelt wurden. | |
Leichtfüßig steigt Milon auf einen der Hügel. „Hier war damals der Aufgang | |
für die Arbeiter“, sagt er. Der ehemalige Näher hat ihn täglich benutzt, um | |
ins zweite Stockwerk zu kommen, wo er arbeitete. „Und dort drüben“ – er | |
zeigt auf ein Mauerstück – „haben sie letzte Woche Knochen rausgeholt.“ | |
Knochen und Haare – nach einem Jahr bleibt sonst nicht mehr übrig. | |
Vor einem Jahr kamen an dieser Stelle 1.138 Menschen ums Leben. Am 23. | |
April, einem Dienstag, zeigten sich Risse in tragenden Säulen des | |
neunstöckigen Gebäudes, in dem fünf Textilfabriken untergebracht waren. Sie | |
alle produzierten für Modemarken aus der EU und den USA, darunter Walmart, | |
Benetton und Kik. Doch herbeigerufene Ingenieure gaben Entwarnung. Am | |
nächsten Tag, eine halbe Stunde nach Arbeitsbeginn, fiel das Rana Plaza | |
zusammen und begrub rund 3.600 Menschen unter sich. In den Tagen danach | |
wurden etwa 2.500 von ihnen lebend geborgen, viele schwer verletzt. | |
Damals war Milons Gesicht auf [1][der Titelseite der taz] (pdf-Datei) zu | |
sehen. „Der Überlebende“ stand darüber. [2][Er hatte mit Glück überlebt] | |
und wurde schon am selben Abend, zusammen mit einem halben Dutzend anderen, | |
von Soldaten aus der Ruine befreit. Damals zeigte noch eine Wunde, wo ihn | |
der herunterfallende Schutt getroffen hatte. Ansonsten schien es, als hätte | |
Milon die Katastrophe ohne langfristige Folgen überlebt. | |
## Milons Albträume | |
Doch es blieb nicht dabei. Er habe nicht mehr arbeiten können, erzählt er. | |
Wegen der Albträume. Aber auch, weil er sich ständig hinlegen muss. Eine | |
Arbeit als Näher, bei der man acht bis zehn Stunden am Tag aufrecht sitzen | |
muss, sei ausgeschlossen. Dann, drei Monate nach dem Unglück, stellten | |
Ärzte eine Wirbelsäulenverletzung fest. Seitdem muss Milon täglich zur | |
Physiotherapie. Geld für die vierköpfige Familie verdient jetzt nur noch | |
seine Frau, die ebenfalls Näherin ist. | |
Täglich kurz vor zehn Uhr macht sich Milon auf den Weg in die nahe gelegene | |
Klinik des Instituts für Arbeitsstudien. Der Weg führt wenige hundert Meter | |
von den Resten des Rana Plaza weg in eine Nebenstraße. Im kleinen | |
Wartezimmer, das zugleich das Büro ist, warten bereits ein Dutzend Männer | |
und Frauen. Der Therapeut begrüßt Milon mit Handschlag, beide verschwinden | |
im Nebenzimmer. | |
Die Klinik gibt es seit kurz nach dem Einsturz. Hier erhielten | |
ArbeiterInnen des Rana Plaza, ihre Angehörigen und freiwilligen | |
Rettungshelfer kostenlose Diagnosen, Medikamente und Physiotherapien. Nicht | |
immer geht es um Behandlungen, die direkt mit dem Unglück zu tun haben | |
„Viele Patienten haben jetzt kein Einkommen mehr, anderswo können sie sich | |
keine Therapie leisten“, so Klinikchef Choudhury Borhanuddin. | |
Die Frauen und Männer im Wartezimmer berichten von schlechten Träumen und | |
belastenden Gedanken. Immer wieder erleben sie den Tag des Einsturzes, | |
viele fürchten sich seitdem vor hohen Gebäuden. | |
## 92 Prozent sind traumatisiert | |
Wie weit verbreitet das Elend ist, hat im Herbst vergangenen Jahres eine | |
Umfrage unter 2.300 der Überlebenden und Familien der Toten der | |
Hilfsorganisation Actionaid gezeigt: 92 Prozent der Befragten berichteten, | |
dass sie traumatisiert seien, und mehr als die Hälfte gab an, nicht | |
schlafen zu können. Die Hälfte gab an, Schulden zu haben. Eine neue | |
Umfrage, die am Sonntag vorgestellt wurde, stellte fest, dass zwei Drittel | |
von ihnen arbeitslos sind. | |
Ein halbes Jahr später warten die vielen Verwundeten und Hinterbliebenen | |
noch immer auf Entschädigung. Das liegt auch daran, dass sich alle, die | |
sich verantwortlich zeigen könnten, drücken: Die Fabrikbesitzer und der | |
Hausbesitzer sitzen in Haft und sind allen Berichten zufolge pleite; die | |
Regierung, die das Gebäude hätte kontrollieren müssen, hat noch zu Beginn | |
Behandlungskosten übernommen und den Hinterbliebenen je 1.000 bis 5.000 | |
Euro gespendet; der Arbeitgeberverband hat drei Monatslöhne gezahlt und | |
sich seitdem nicht weiter beteiligt. | |
Die offizielle Entschädigung soll aus einem Fonds ausgezahlt werden, in den | |
internationale Modefirmen einzahlen sollen. Doch auch sie lassen sich Zeit: | |
Geschätzt wurde, dass der Fonds insgesamt 29 Millionen Euro braucht, aber | |
bisher haben fast zwanzig Firmen weniger als ein Drittel des Geldes | |
eingezahlt. Symbolisch zahlt der Fonds bis zum 24. April allen aber schon | |
einmal 500 Euro pauschal aus. Schätzungsweise sollen Überlebende insgesamt | |
mehrere tausend Euro bekommen, die Hinterbliebenen von Toten um die 15.000 | |
Euro. Wenn das Geld einmal da ist. | |
Geld hat die Familie von Khaja Miah noch nicht gesehen. Die einst | |
sechsköpfige Familie wohnt in einer 1-Zimmer-Wohnung neben Milon. Khaja | |
Miahs zwei Töchter, die 20-jährige Munni und die 22-jährige Lucky, | |
arbeiteten beide im Rana Plaza. Lucky wurde noch am 24. lebendig aus der | |
Ruine geborgen, Munnis Leiche fanden die Rettungsarbeiter erst zwei Wochen | |
später. Ihr Vater konnte sie nur noch an ihrer Kleidung und am Schmuck | |
identifizieren. Jetzt fehlt der Familie jegliches Einkommen: Khaja Miah ist | |
herzkrank und darf keine schwere Arbeit verrichten, seine Frau hat nichts | |
gelernt, Lucky ist traumatisiert, die zwei Söhne der beiden sind noch | |
minderjährig. | |
Monatelang hat Khaja Miah sich durch die Bürokratie gearbeitet, um die | |
1.000 Euro Spende von der Regierung zu bekommen. Kurz vor dem Jahrestag am | |
24. April ist der Scheck gekommen. Aber bleiben wird nicht viel. „Wir haben | |
mehrere hundert Euro in den Läden angeschrieben“, erzählt Khaja Miah. „Und | |
unserem Vermieter schulden wir vier Monatsmieten.“ Ihre nächste Hoffnung | |
ist die Entschädigung – wenn sie kommt. | |
22 Apr 2014 | |
## LINKS | |
[1] /fileadmin/static/pdf/2014-04-22_2014-04-22_bangladesch_titel.pdf | |
[2] /Fabrikeinsturz-Bangladesh/!115935/ | |
## AUTOREN | |
Lalon Sander | |
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