| # taz.de -- Impressionen von der re:publica 2014: Die Gesellschaftskonferenz | |
| > Die re:publica in Berlin ist längst mehr als Geek- und | |
| > Internetveranstaltung. Es geht um den Fortschritt – und wie wir mit ihm | |
| > umgehen. | |
| Bild: Alle da: Besucher der re:publica 2014. | |
| Mit ihren 350 Einzelveranstaltungen, meist läuft ein Dutzend parallel, ist | |
| die [1][re:publica] das Internet im Kleinen: Es gibt hier keine lineare | |
| Erzählung, keine kollektive Kongressrezeption, keine fertigen Ergebnisse, | |
| dafür viele Prozesse und noch mehr Dialoge. Das Überangebot sorgt für | |
| Überforderung, kaum wird etwas langweilig, verlassen viele Leute den Raum. | |
| Ist es nebenan nicht vielleicht viel spannender? Es ist ein | |
| Impressionsgewitter, ein permanenter Input-Overload, von dem man manchmal | |
| erst Jahre später weiß, was er einem eigentlich gebracht hat. | |
| *** | |
| Das Überthema Überwachung schwebt bei der ersten re:publica nach Snowden | |
| über allem. Den großen Aufschlag macht dabei Sascha Lobo, der durch die | |
| NSA-Affäre, die er gar nicht als „Affäre“ verniedlicht sehen will, vom | |
| Interneterklärbären zum Internetmahner geworden ist. 70 Minuten lang | |
| [2][redet er den Zuhörern ins Gewissen], verurteilt die Nichtbereitschaft, | |
| die wenigen hart arbeitenden Internet-Lobbygruppen finanziell zu | |
| unterstützen, die Müdigkeit, die sich bei diesem Thema längst eingestellt | |
| hat, als wäre das Problem gelöst, nur weil es seit einem Dreivierteljahr | |
| bekannt ist. Die Regierung verurteilt er auch und bekommt langen Applaus. | |
| *** | |
| Es gibt verschiedene Gruppen hier: Die Leute aus Hackerkontexten mit bunten | |
| Haaren und sehr fortschrittlichem Genderverständnis. Die Abgesandten aus | |
| den Start-ups und Agenturen, Menschen mit gut sitzender Kleidung und | |
| jungen, unfertigen Gesichtern. Klassische 40-plus-Businesstypen mit Anzügen | |
| und Umhängetaschen. Blasse übergewichtige Nerds, die selbst von deutschen | |
| Fernsehfilmregisseuren als zu klischeehaft abgelehnt würden. Und ein großer | |
| Rest von Twenty- und Thirty-somethings, der aussieht wie überall in Berlin. | |
| Auf dem Hof bleiben diese Gruppen oft unter sich, in den Veranstaltungen | |
| diskutieren sie miteinander. | |
| *** | |
| Sehr lobenswert ist die synchrone Untertitelung der Reden auf der | |
| Hauptbühne. Also die Idee ist lobenswert, in der Umsetzung wird aus | |
| „Pracmatism“ schon mal „Prague mytism“, aus dem NSA-Spähprogramm „Pr… | |
| wird „Prison“ und aus „Godzilla“ ein „bug“. Auf dem Hof erzählt je… | |
| manche der Reden würden mit automatischer Spracherkennung untertitelt, | |
| andere von Menschen. Wenn das stimmt, erkennt man zumindest den Unterschied | |
| nicht mehr. Hallo, Zukunft. | |
| *** | |
| Der Veranstaltungsort ist ein ehemaliger Postbahnhof, der Innenraum ist | |
| gigantisch weitläufig, manche Säle sind nur von Vorhängen getrennt. Damit | |
| man sich nicht gegenseitig stört, finden diverse Veranstaltungen mit | |
| Funkkopfhörern statt, wie „Silent Disco“, nur ohne tanzen. Das sieht lustig | |
| aus, aber man gewöhnt sich schnell dran – wenn die Dinger nur die Ohren | |
| nicht so heiß machen würden. Was auch die Kopfhörer nicht verhindern | |
| können, ist das Phantomklatschen: tosender Applaus an völlig falschen | |
| Stellen, von der anderen Seite des Vorhangs. | |
| *** | |
| Die Kopfhörer wurden übrigens von einer Bank gespendet. Ohne Sponsoren geht | |
| es nicht, erst recht nicht bei den Eintrittspreisen. Im Foyer steht ein | |
| ganzes Messestanddorf aus weißen Kisten, eine Schuhfirma ist mit dabei, | |
| diverse Start-ups, Baden-Württemberg gleich zweimal. Größere Partner | |
| kriegen Veranstaltungsslots, einer hat den bemitleidenswerten David | |
| Hasselhoff auf die Bühne gezerrt. Den wichtigsten Sponsoren wird bei der | |
| Begrüßung gedankt: „Unser größter Partner ist wieder Daimler, diesmal mit | |
| dem Schwerpunktthema Mobilität.“ Die Leute lachen. „Äh, ja, also | |
| eMobility.“ Das schönste Sponsorengimmick aber haben alle Teilnehmer in | |
| ihren Kongresstaschen: eine Packung Kekse in Form von Facebook-Like-Daumen. | |
| *** | |
| Noch ein paar Zahlen: 6.000 Besucher sind da, 1.000 mehr als letztes Jahr. | |
| 40 Prozent von ihnen sind Frauen, bei den Speakern sieht es genau so aus. | |
| Über 324.000 von diesen Gratiskeksen wurden verteilt. Und es waren rund 600 | |
| Journalisten da, der häufigste Vorname bei den Männern: Michael. Ähem. | |
| *** | |
| Den besten Kaffee mit den kürzesten Schlangen gibt es in der Jazz-Bar | |
| gleich hinterm Eingang. Nur das mit dem Kassiersystem funktioniert nicht so | |
| richtig: Es ist ein iPad-Interface, das irgendwie mit der Analogkasse | |
| verbunden ist, die aber nicht dann aufgeht, wenn sie soll. „Die ist einfach | |
| zu schnell für das Scheißding“, sagt eine chefartige Person. Kurz danach | |
| kommen 15 Bons auf einmal aus dem Drucker. Man entscheidet sich dann, den | |
| Kaffeekonsum mit einer Strichliste zu dokumentieren. | |
| *** | |
| Die Keynote halten [3][die Yes Men], die ihre | |
| Kommunikationsguerilla-Methode vorstellen: im Namen großer Organisationen | |
| falsche Pressemitteilungen rausgeben oder bei Tagungen Vorträge halten – | |
| und dabei immer genau so weit gehen, dass die Leute es noch glauben. Sie | |
| zeigen ihren Auftritt bei einer Homeland-Security-Konferenz, auf der sie | |
| einen Vortrag über die Abschaffung der fossilen Energien in den USA bis | |
| 2030 gehalten haben und wo ein Vertreter des fiktiven Indianerstamms der | |
| Wanabis es geschafft hat, dass die Zuschauer einen Rundtanz aufführen. | |
| Großes Gelächter im re:publica-Saal. Lustig wäre es jetzt, wenn ein Video | |
| von uns in einem halben Jahr auf einer Tea-Party-Konferenz gezeigt wird und | |
| dieselben Männer dann erzählen, sie hätten sich auf einer linksliberalen | |
| deutschen Netzkonferenz als „Yes Men“ ausgegeben und Quatsch erzählt. | |
| *** | |
| Man sollte, man müsste hier so viel mehr über die Inhalte schreiben, | |
| allein, es würde den Rahmen sprengen – doch die meisten Veranstaltungen | |
| kann man sich ohnehin auch nachträglich [4][auf YouTube] anschauen, vieles | |
| steht auch in unseren [5][Tageszusammenfassungen]. Deswegen hier bloß noch | |
| eine Empfehlung: Der Vortrag [6][„Unsinn stiften als performative | |
| Aufklärung“], in dem Christiane Frohmann den Unterschied von Entweder-oder- | |
| und Und-Menschen erklärt, die Schönheit von computergeneriertem Spam zeigt | |
| und brillante Bögen schlägt, von der Aufklärung zu „Serial Mom“, von der | |
| Toteninsel zum Cthulhu-Mythos, von Kafka zu Hitlerkatzen. | |
| *** | |
| Im Hof: „Wie war die Party?“ – „Das war keine Party. Das war einfach nu… | |
| ein bisschen Chill-out.“ Woanders im Hof: „Die Party, ja, die war nach | |
| objektiven Gesichtspunkten wahrscheinlich Mist. Aber ich komm ja nicht hier | |
| her, um zu geiler Musik zu tanzen, sondern um mich mit interessanten Leuten | |
| zu unterhalten. Also ich hatte viel Spaß.“ | |
| *** | |
| Die re:publica käme ihrem Ziel, eine Gesellschaftskonferenz zu werden, | |
| immer näher, sagt Johnny Haeusler bei der Eröffnung. Sie hat es längst | |
| erreicht. Denn es geht nicht nur um Bezahlmodelle für Online-Journalismus, | |
| um Internethumor jenseits von Katzen, um Wikileaks oder Programmieren, es | |
| geht genauso auch um die Geschichten der Pen+Paper-Rollenspiele, um | |
| Einhörner, um Cyborgs, um das Leben nach der Apokalypse oder um den Streit | |
| der Sprachprogressiven (die mit dem Gender Gap und dem N-Wort) und der | |
| Sprachkonservativen (die das alles total albern finden). | |
| Denn die re:publica ist keine Technologieveranstaltung, sie ist nicht mal | |
| eine Internetveranstaltung. Ihre Klammer ist breiter, es geht um | |
| Fortschritt: Wie er sich strukturell darstellt und gestalten lässt, wie wir | |
| mit ihm umgehen und was er mit der Gesellschaft und den Individuen macht. | |
| Was die Menschen hier eint, ist ihre geistige Bereitschaft, Veränderung als | |
| etwas Positives zu begreifen und die Zukunft als Chance zu sehen. Als | |
| etwas, an dem wir alle mitarbeiten können. | |
| *** | |
| Hinweise: Einige Passagen dieses Texts kamen schon in den Zusammenfassungen | |
| von [7][Tag 1] und [8][Tag 2] auf taz.de vor. Diese Doppelungen sind darin | |
| begründet, dass dieser Text als einziger in der Printausgabe erschienen | |
| ist. Sie wurden auch online im Text gelassen, damit er komplett bleibt. | |
| Außerdem waren einige Zahlen anfangs falsch und wurden am Donnerstagabend | |
| korrigiert. | |
| 8 May 2014 | |
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| [1] http://www.re-publica.de/ | |
| [2] http://www.re-publica.de/session/rede-zur-lage-nation | |
| [3] http://www.re-publica.de/search/node/yes%20men | |
| [4] http://youtube.com/user/republica2010 | |
| [5] /republica-2014-der-2-Tag/!138033/ | |
| [6] http://www.re-publica.de/session/unsinn-stiften-performative-aufklaerung-vo… | |
| [7] /republica-2014-der-1-Tag/!137974/ | |
| [8] /republica-2014-der-2-Tag/!138033/ | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
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