Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Ostukraine vor dem Referendum: Ein ökologisches Notstandsgebiet
> Die Kleinstadt Zugres liegt etwa 50 Kilometer östlich von Donezk. Ein
> Großteil der Bewohner befürwortet die Unabhängigkeit der Region. Ein
> Besuch.
Bild: Wahlurne in Donezk: Die Vorbereitungen für das Referendum am Sonntag sin…
ZUGRES taz | „Ich fühle mich so hilflos. Nicht einmal meine Familie kann
ich schützen. Schade, dass man mir kein Gewehr gibt. Dann könnte ich
ruhiger schlafen und würde nicht nur mein Haus verteidigen, sondern auch
das Recht in die Hand nehmen und für unsere Werte kämpfen“, erklärt Igor
Schneidmüller. Er legt Wert darauf legt, dass sein Nachname mit Umlaut
geschrieben wird. Schneidmüller steht vor seinem kleinen Haus mit einem
Garten von der Größe eines halben Fußballfeldes und beruhigt seinen
bellenden Kettenhund mit ruhiger Stimme.
Anzusehen ist dem phlegmatisch wirkenden, deutschstämmigen Ukrainer in der
Kleinstadt Zugres seine innere Anspannung nicht – wohl aber seine
Entschlossenheit. 90 Minuten ist Zugres, fährt man mit dem Bus, von Donezk
entfernt. Vor dreißig Jahren hatte es den Ingenieur, der in Ekaterinburg
studierte und anschließend einige Jahre In Kasachstan bei der Eisenbahn
arbeitete, in die Kleinstadt Zugresk bei Donezk verschlagen. Dann ging es
langsam bergab.
Zuerst fand er eine Anstellung als Ingenieur beim Heizkraftwerk der Stadt,
seine Frau Tatjana kam dort in der Wirtschaftsabteilung unter. Doch vor
einigen Jahren wurde dem Ingenieur die Entlassungsurkunde überreicht. Wenn
er wolle, so sein Chef, könne er ja als Schlosser mit deutlich weniger
Gehalt bei der Firma bleiben. Seiner Frau machte man nicht mal mehr ein
sozialverträgliches Angebot.
Seit sieben Jahren ist sie ganz ohne Job. „Wenn meine Tochter nicht wäre,
die in Kiew bei Microsoft arbeitet, könnten wir hier kaum überleben.
Überhaupt, wenn wir unseren Garten nicht hätten, wüsste ich nicht, wie ich
jeden Tag drei Mahlzeiten auf den Tisch zaubern sollte“, sagt die studierte
Wirtschaftswissenschaftlerin enttäuscht.
## „Bürgerin zweiter Klasse“
„Ich bin in die Ukraine umgezogen und anfangs habe ich mit großer
Begeisterung ukrainisch gelernt“ sagt Tatjana. Doch als Ukrainisch hier
Pflicht wurde, hat es mit meiner Begeisterung aufgehört“. 2004 habe
Juschtschenko mit seiner „orangenen Revolution“ Ukrainisch zur
Staatssprache gemacht und Russisch zurückgedrängt. „Gleichgültig, ob ich
einen Mietvertrag unterschreiben, gegen eine Firma klagen will, oder
einfach eine Prüfung machen muss, alles muss auf Ukrainisch abgewickelt
werden. Ich fühle mich als Russin wie eine Bürgerin zweiter Klasse.“
Besonders wütend mache sie, dass sie in allen offiziellen Dokumenten
„Tetjana“ genannt werde. „Ich will aber so genannt und angesprochen werde…
wie mich meine Mutter getauft hat. Und die hat mich nun mal Tatjana
getauft.“ Auch wenn die Schneidmüllers nicht verraten wollen, wie sie am
sonntäglichen Referendum abstimmen wollen, aus Furcht, dass ihnen dann
irgendwelche Radikalen das Haus abfackeln, machen sie aus ihrem Hass
gegenüber der Kiewer Übergangsregierung keinen Hehl.
Die Politik habe inzwischen sogar Zwietracht in ihre Familie gebracht. Ihre
Tochter lebe in Kiew und unterstütze die Übergangsregierung, sei auch
regelmäßig auf den Maidan gegangen. „Wir haben inzwischen konträre
Wertsysteme. Es hat mich sehr getroffen, dass mir meine Tochter dieses Jahr
nicht einmal zum 9. Mai, dem Tag des Sieges, gratuliert hat. Das ist doch
immer unser größter Feiertag gewesen.“
Gelegenheit dazu hätte sie gehabt. „Jeden Tag sehe ich sie und meinen Enkel
über Skype“. Zugres ist eine sterbende Stadt. Auf eine Geburt kämen drei
Todesfälle, berichtet Vera von der Wahlkommission. „Gehen Sie mal auf
unseren Friedhof, dann sehen Sie, wieviele junge Menschen hier verstorben
sind“. Das Gebiet Donezk sei ein ökologisches Notstandsgebiet, die
Krebsraten seien sehr hoch.
## Wahlbetieiligung von 70 Prozent erwartet
Maximal zwei Prozent werden beim sonntäglichen Referendum gegen die
Souveränität der Volksrepublik Donezk stimmen, berichtet der
Stadtkommandeur der „Kräfte der Selbstverteidigung der Volksrepublik
Donezk“, Viktor Kljutschka. Er geht von einer Wahlbeteiligung von 70% aus.
Es gebe vor Ort praktisch niemanden, der gegen die Souveränität sei. In
seiner Stadt sei alles vorbereitet.
Auch die Schlüssel für die öffentlichen Gebäude, in denen sich die acht
Wahllokale befinden, habe man bereits. Nur mit den Urnen würde ein Beamter
noch Schwierigkeiten machen. Ansonsten würden die Behörden aber gut mit den
„Kräften der Selbstverteidigung“ zusammenarbeiten. Es sei jetzt wichtig,
Kiew zu zeigen, dass man in einem demokratischen Verfahren den Willen des
Volkes deutlich mache.
„Ich werde mit Nein stimmen“ erklärt die Lehrerin Alla in einem Gespräch
unter vier Augen. „In der Sowjetunion ist es mir gut gegangen. Doch nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es uns allen immer schlechter. Heute
geht es uns in der Ukraine schlecht, die Wirtschaft liegt am Boden. Aber
wenn wir uns jetzt noch abspalten, wird es uns noch schlechter ergehen. Der
Zusammenbruch der Sowjetunion zeigt doch, dass Abspaltungen nie gut sind.
Und wie soll ich eigentlich in Zukunft ins Ausland reisen können, wenn ich
Bürgerin eines Staates bin, der von keinem Staat anerkannt wird.“
Wadim, der auch in Zugres lebt, kritisiert die Vorgehensweise der
städtischen Vertreter der „Volksrepublik“, allerdings aus einer ganz
anderen Richtung. „Die sind viel zu demokratisch und tolerant. Da wird man
nie voran kommen. Man sollte in unserer Stadt so verfahren, wie es unsere
Gesinnungsgenossen in Slawjansk gemacht haben.“ Eines Morgens habe man dort
verfügt, dass sich alle Männer entscheiden müssen: entweder legen sie bis
18 Uhr einen Eid auf die Stadt ab und schließen sich den Kräften der
Selbstverteidigung an oder sie verlassen die Stadt bis 18 Uhr. Das habe
funktioniert.
10 May 2014
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Referendum
Ostukraine
Donezk
Lugansk
Abstimmung
Unabhängigkeit
Ukraine
Ostukraine
Republik Moldau
Ukraine
Donezk
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar Ostukraine: Der Irrsinn geht ungebremst weiter
In der Ostukraine wird für die Unabhängigkeit abgestimmt. Die Folgen sind
vorhersehbar, als Nächstes wird wohl über einen Beitritt zu Russland
abgestimmt.
Referendum im Osten der Ukraine: Zustimmung in durchsichtigen Urnen
Das umstrittene Referendum in der Ostukraine ist angelaufen. Über die
Beteiligung gibt es widersprüchliche Angaben, wie auch über die Zahl der
Wahlberechtigten.
Dramatikerin über Moldau und Europa: „Absolut kein Anlass zur Hoffnung“
Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu sieht die europäische Perspektive ihrer
Heimat pessimistisch. Den Glauben an Veränderung hat sie aufgegeben.
Krise in der Ukraine: Merkel und Hollande fordern Dialog
Die Bundeskanzlerin und Frankreichs Staatspräsident betonen die Bedeutung
freier Wahlen in der Ukraine. Der Übergangspräsident im Land bietet derweil
Gespräche an.
„Tag des Sieges“ in der Ost-Ukraine: Rote Fahnen, alter Hass und Pilze
Der Tag des Sieges über den Faschismus wird in Donezk zur prorussischen
Demonstration für die Loslösung von Kiew. Aber nicht alle machen mit.
Russische Feierlichkeiten zum 9. Mai: Siegeseuphorie wie zu Sowjetzeiten
Mit einer Parade auf dem Roten Platz zelebriert Moskau den Sieg über
NS-Deutschland. Und Putin wird auf der Krim für die Annektion der Halbinsel
gefeiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.