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# taz.de -- Europas Bruchlandung: Krieg die Krise!
> Alle reden schlecht von der Krise. Das ist sie auch. Sie lässt sich aber
> auch anders sehen: als Normalzustand und als Chance.
Bild: Krisenstimmung: hoch, runter, zur Seite und vor.
Lange Zeit habe ich geglaubt, Begriffsgeschichte sei etwas für angestaubte
Philologen. Bis ich mir die Begriffsgeschichte der Krise angesehen habe.
Das war, als die europäische Finanzkrise gerade hochkochte. Und es war sehr
interessant. Seitdem glaube ich, dass es längst Bestandteil des notwendigen
Umgangs mit Krisen ist, sich klarzumachen, worüber wir eigentlich reden,
wenn wir von Krisen reden.
Wie so vieles stammt der Begriff von den alten Griechen, und zwar aus der
Medizin. Eine Krise in diesem Sinn bezeichnet eine Entscheidungssituation:
den Moment eines Krankheitsverlaufs, in dem es auf Leben oder Tod geht. Der
Kranke selbst fühlt sich in diesem Moment vollkommen ausgeliefert und zur
Ohnmacht verurteilt. Erst die Lösung der Krise bringt für ihn eine
Befreiung.
All das schwingt bis heute mit; tief eingesenkt hat sich dieser
Krisenbegriff in unser Denken. In den Begriff der Krise ist sozusagen ein
Alarmmechanismus eingebaut. Er ruft sofort einen ganzen Kontext von Sätzen
mit Ausrufezeichen auf. Von „Es geht um Leben und Tod!“ über „Hier und
jetzt muss etwas geschehen!“ bis „Sonst bricht alles zusammen!“.
Und bei allem, was unhaltbar und verstörend war und noch ist an der
Eurokrise in Griechenland und anderswo: Dieser Aspekt hat gut funktioniert.
Die mediale Präsenz und die Aufmerksamkeit des politischen Systems war
sofort vorhanden. Und es war ein Bewusstsein dafür vorhanden, wie
tiefgreifende Lebenskrisen solche wirtschaftliche und politischen Krisen
bei den Betroffenen auslösen können.
## Es muss etwas geschehen
Allerdings drückt der Begriff der Krise nur aus, dass etwas geschehen muss.
Was genau zu geschehen hat, sagt er nicht. Außerdem ist es immer eine Frage
der sachlichen Analyse und politischen Interpretation, worin genau die
Krise denn nun bestand. Bankenkrise, griechische Krise, Finanzkrise,
EU-Krise, Krise Europas? „Was heißt heute Krise?“, hat der Philosoph Jürg…
Habermas einmal in einem wichtigen Aufsatz gefragt. Das muss immer neu
ausgehandelt werden – im Fernsehen gibt es die vielen Talkshows, die im
Grunde nichts anderes als dies tun.
Was man aber vor allem sehen muss: Der Krisenbegriff verführt zu starken
Pauschalisierungen. Er verleitet dazu, eindeutig Schuldige zu benennen, wo
in Wirklichkeit auf der Ursachenseite komplexe Prozesse stehen. Er
verleitet dazu, einfache Rezepte zur Behebung der Krise anzubieten. Das ist
attraktiv für Aktivisten, aber untauglich für eingehende Analysen.
Und es gibt noch einen Nachteil des Krisenbegriffs: Er legt einem nahe, zu
denken, dass die Krise die Abweichung von einem unkrisenhaften
Normalzustand ist – der Gesundheit, des Naturzustands, der vernünftigen
Einrichtung der Gesellschaft. Genau dieser Zustand des Normalen ist uns in
der modernen Welt aber abhandengekommen, und das ist auch gut so. Es
ermöglicht ein vielleicht komplizierteres, aber auch reicheres, nicht auf
eindeutige Identitäten festgelegtes individuelles Leben.
## Fruchtbar und kompliziert
Schon die alten Griechen haben ihren Krisenbegriff über die Medizin hinaus
weiterentwickelt. In der griechischen Tragödie ist eine Krise der
Wendepunkt eines schicksalhaften Geschehens, und sie bricht nicht von außen
über den Helden hinein, sondern ist in der Struktur des Handlungssystems
selbst angelegt. Krise steht hier also für einen fundamentalen Konflikt,
den man nicht einfach lösen, dem man aber auch nicht ausweichen kann.
Dieser Begriff der Krise ist etwas komplizierter, aber in manchem auch
fruchtbarer. Was man mit ihm in den Blick bekommen kann, ist das Moment der
Entwicklung. Entwicklungen sind ohne Krise nun mal nicht zu haben, und der
Punkt ist: Entwicklungen können, zumindest auf längere Sicht, auch manchmal
positiv sein. In den heutigen Alltagssprachgebrauch übersetzt, bedeutet
das, dass eine Krise auch eine Chance sein kann.
Was wir so vielleicht brauchen, ist ein differenzierteres Sensorium für
Krisen. Das duale Denken, das vielen Krisenszenarios zugrunde liegt – keine
Krise: alles gut; Krise: alles schlecht –, sollte man hinter sich lassen.
Eine Gesellschaft ohne Krisen wäre statisch. Und stattdessen sollte man
lernen, mit Krisen zu leben und darüber hinaus gute von schlechten Krisen
zu unterscheiden. So ist die Krise des griechischen Gesundheitssystems nach
der Finanzkrise ganz sicher schlecht und unnötig. Aber die Krisen
eingefahrener nationaler Identitäten und tradierter Strukturen haben auch
ihr Gutes.
Dass es in Europa Krisen gibt, muss also nicht heißen, dass alles immer
schlechter wird. Es kann auch heißen, dass Europa sich gerade – entwickelt.
16 May 2014
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Krise
Essay
Irland
Krise
Europäische Union
Eurokrise
Blockupy
Thomas Piketty
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