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# taz.de -- Politkunst-Aktion in Berlin: Mein syrisches Lieblingskind
> Das Zentrum für Politische Schönheit lässt Passanten entscheiden, welche
> vom Bürgerkrieg betroffenen Kinder in Deutschland aufgenommen werden.
Bild: Die fingierte „Flüchtlingszulassungsstelle des Bundes“ in Berlin
BERLIN taz | Wird es Badr, 8, aus Ittaka? Oder Glina, 2, aus Aleppo? Es
könnte aber auch Mwafak sein, eine Achtjährige aus Homs. Egal, irgendwer
wird schon gewinnen.
Es ist Mittwochabend, 20 Uhr, Zeit für eine Quizshow. Die beginnt gerade
auf einer kleinen Bühne am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, gecastet wird
eins von 1.000 Kindern. Open Air, es ist der erste richtig warme Tag in
diesem Jahr, die Stimmung ist gut. Die Mädchen und Jungen,
Flüchtlingskinder aus Syrien, werden in kurzen Videos vorgestellt. Die
Leinwand ist über einem Container angebracht, in Wiederholungsschleife
läuft das Volkslied „Wer möchte nicht im Leben bleiben?“
Etwa hundert Zuschauer versammeln sich. Touristen, Leute, die von der
Arbeit kommen. Zwei Obdachlose reden laut über „Nutten“ und dass die „vi…
Geld kosten.“ Die Moderatorin ruft: „Sie haben die Wahl.“ Damit meint sie,
dass das Publikum darüber entscheidet, welches Kind das Rennen macht.
Dieses Kind soll in Deutschland aufgenommen werden.
Eins von Eintausend.
Der mittlerweile drei Jahre dauernde Krieg in Syrien hat unzählige Tote
produziert, fast drei Millionen Menschen sind auf der Flucht. Nach Angaben
der Hilfsorganisation Amnesty International sind 2.000 Flüchtlingskinder
unter fünf Jahren vom Hungertod bedroht. Die Moderatorin sagt: „Manuela
Schwesig wird das eine Kind, das Sie auswählen, retten.“ Manuela Schwesig
ist die SPD-Familienministerin, ihr Porträt klebt groß an der Rückwand des
Containers.
## Zynisch – mit Absicht
Klingt zynisch? Ist zynisch. Aber das ist die Absicht der Show, die keine
richtige Show ist, sondern eine Kampagne des [1][Zentrums für Politische
Schönheit], einer Menschenrechts- und Künstlergruppe um den Berliner
Kunstaktivisten Philipp Ruch. Seit fast zwei Wochen fordert die Gruppe die
Bundesregierung mit verschiedenen Aktionen auf, syrische Flüchtlinge
aufzunehmen. Das tut sie mit diesem Kinder-Casting. Und mit [2][einer
gefälschten Homepage des Familienministeriums]. Die Internetseite
suggeriert, dass Familienministerin Schwesig für 55.000 syrische
Flüchtlingskinder nach Pflegeeltern sucht.
Im Container läuft ein Film, er zeigt ein Kinderzimmer in Aleppo nach einem
Fassbombenabwurf. Das Haus liegt in Schutt und Asche, Männer versuchen ein
Kind aus den Trümmern zu graben. Ein Mann ruft: „Bringt den
Bolzenschneider.“ Der Film zeigt noch mehr: ein einjähriges Mädchen ohne
Füße, ein anderes Kind, das verblutet, Bilder von einem Krankenhaus, aus
dem Blut gespült wird.
Rebellen haben die Bilder aufgenommen, sagt John Kurtz. Er ist einer der
Künstler aus der Gruppe und hat selbst in Aleppo fotografiert.
„Bürgerjournalisten“ nennt er die jungen Männer, die überall in Syrien s…
Monaten mit ihren Kameras den Alltag der Menschen einfangen. Sie sind um
die 20 und wollen nicht zur Waffe greifen, sagt Kurtz.
Jetzt sagt die Moderatorin, dass das Familienministerium bei den Künstlern
angerufen und gefragt habe, was es denn konkret für die Flüchtlinge tun
könne. Das Publikum klatscht. Das Ministerium aber sagt, dass das nicht
stimmt. Ohnehin distanziert sich das Haus von der Aktion (siehe Kasten).
Weder die Internetseite noch der Aufnahmeaufruf sei mit der Ministerin
abgesprochen. Ohnehin sei für Flüchtlinge das Innenministerium zuständig.
Das hat nach Aussage der Künstler erst gar nicht reagiert. „Denen ist das
scheißegal“, sagt Kurtz.
Deutschland will 10.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen, bislang ist noch
nicht einmal die Hälfte da. Einer, der schon hier ist, ist Anis Hamdoun,
29, Theaterdirektor. Er ist ein „lucky guy“, ein Glückspilz, wie er von
sich sagt. Weil er es bis hierher geschafft hat. Ein Granatsplitter hat
sein rechtes Auge weggerissen, er hat Tote und Menschen ohne Hände und
Beine gesehen. Für zwei Jahre darf er zunächst in Deutschland bleiben –
dann wird neu verhandelt. Er sagt: „Die Künstler machen ihren Job. Sie
provozieren, okay, aber wer sonst tut denn was?“
Ruha Hawash, 25, eine kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, schaut sich
die Aktion an. Sie wurde in Damaskus, wo sie herkommt, für ihre politischen
Aktivitäten verhaftet. Sie ist schon länger hier, sie will hier studieren.
10.000 Flüchtlinge aufzunehmen, sagt sie, sei „nicht genug“.
## Schmerzhafte Erinnerungen an Kinderhandel
Die Kunstaktion, die durch das Netz breite Aufmerksamkeit erfährt, schürt
aber auch Ängste, zum Beispiel in Libanon. Dort war Kinderhandel während
des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 ein „blühendes Geschäft“, sagt Bente
Scheller, Leiterin des Nahost-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut:
„Kinder von ihren Familien zu trennen, zu ihrem vermeintlichen Schutz, das
weckt in der gesamten Region schmerzhafte Erinnerungen.“
Als die Künstler am Mittwochmittag den Container und die Technik aufbauen,
postiert sich auf der anderen Straßenseite ein Wahlkampfbus der NPD. Ein
NPDler klebt ein Plakat an eine Scheibe: „Asylbewerber – Nein danke!“. Ein
anderer ruft ins Mikro: „98 Prozent der Asylbewerber sind Scheinasylanten.“
Passanten bleiben stehen. Herren in dunklen Anzügen und Kaffeebechern,
junge Frauen in kurzen Kleidern. Sie rufen: „Verpisst euch.“ Und: „Kein
Mensch ist illegal, Bleiberecht überall.“
Jeden Abend kann am Bahnhof Friedrichstraße gevotet werden, jeder kann sich
sein syrisches Lieblingskind aussuchen. Am Sonntag will das Zentrum für
Politische Schönheit das Ergebnis bekannt geben.
22 May 2014
## LINKS
[1] http://www.politicalbeauty.de/center/News.html
[2] http://www.kindertransporthilfe-des-bundes.de/
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Flüchtlinge
Schwerpunkt Syrien
Manuela Schwesig
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