# taz.de -- Unbelegte Grabflächen: Zu viel Platz zum Sterben | |
> Viele städtische und christliche Friedhöfe stehen in weiten Teilen leer. | |
> Nur den muslimischen Gemeinden fehlen Flächen für ihre Toten. | |
Bild: Immer weniger Tote, kaum noch Besucher: christlicher Friedhof. | |
BERLIN taz | Das Tor steht weit offen. Eine große Lücke, eingelassen in | |
einen Maschendrahtzaun, der sich fast fünfzig Meter entlang der | |
Hermannstraße im Stadtteil Neukölln zieht. Fußgänger streben zur nahe | |
gelegenen S-Bahn-Station. Eine lärmende Baustelle, eine Ampel und auf der | |
Straße Massen von Autos, die fahren, stehen, hupen, stehen. Das geöffnete | |
Tor bleibt weitgehend unbeachtet. | |
Hinter dem Zaun liegt der Tod auf dem Friedhof im Süden Berlins. St. Jacobi | |
II ist ausgestorben. Hier, in Berlin-Neukölln, wo der Platz zum Leben eng | |
wird, gibt es, durch einen Zaun abgeteilt, viel Platz zum Sterben. Zu viel | |
Platz, sagen Experten schon seit fast zehn Jahren. „Fünfzig Prozent der | |
Friedhofsflächen in Berlin sind überflüssig. Das ist eine Entwicklung, die | |
exemplarisch für ganz Deutschland stehen wird“, sagt Jürgen Quandt. Er ist | |
der Chef der Evangelischen Friedhofsverwaltung Stadtmitte. | |
Mit seiner Frau wohnt der Pfarrer seit über zwanzig Jahren auf einem | |
Friedhof, in einem ehemaligen Totengräberhäuschen. Seit Mitte der 90er | |
Jahre kann er aus seinem Schlafzimmer beobachten, wie die Bedeutung des | |
Friedhofs vor seinem Fenster zusammenschrumpft. „Wenn ich da heute | |
runterschaue, sehe ich nur ganz vereinzelt noch Grabsteine.“ | |
## „Ich brauch' kein Grab“ | |
Quandt wohnt nicht auf dem Friedhof, weil er morbid ist. Für ihn gehört der | |
Tod zum Leben, schon immer. Er glaubt, dass eine Gesellschaft, die den Tod | |
vom Leben ausschließt, ein Problem hat. Denn wo der Tod verdrängt wird und | |
mit Ängsten behaftet ist, wirkt sich das auch auf das Leben aus. | |
Die fehlende Beschäftigung mit dem Tod könnte ein Grund sein, warum es auf | |
städtischen und christlichen Friedhöfen kaum noch ein Besucherleben gibt. | |
Das erklärt aber nicht, warum auf den Friedhöfen immer weniger Gräber zu | |
sehen sind. Schließlich herrscht in Deutschland Friedhofszwang: Tote dürfen | |
– ob eingeäschert oder nicht – nur auf Friedhöfen beigesetzt werden. | |
Klaus Damerow, seit fünfzig Jahren Steinmetz an der Hermannstraße, | |
wiederholt voll Bitterkeit den Satz, den er inzwischen am häufigsten hört: | |
„Ich brauch kein Grab, den Schmerz hab ich im Herzen.“ Eine vorgeschobene | |
Begründung, sagt er, für all die, die sich das Geld für einen Grabstein | |
sparen wollen. | |
## Niemandem zur Last zu fallen | |
Pfarrer Quandt kann recht gut belegen, warum der Friedhof als Ort der | |
Trauer keine große Rolle mehr spielt; er hat jeden Tag damit zu tun. In | |
Zeiten der Globalisierung, meint er, da sich Familienstrukturen auflösen | |
und nicht mehr alle Verwandten an einem Ort leben, beantworte sich die | |
Frage der Bestattung nicht von selbst wie früher auf dem Dorf. | |
Ein Grab braucht Pflege. Wer macht das? Wer trägt die Kosten? Wer besucht | |
das Grab regelmäßig? Solche Fragen lassen sich in den Familien oft nicht | |
vorab klären. Auch das hat einen Anteil daran, dass in Berlin seit Jahren | |
rund 40 Prozent der Verstorbenen anonym bestatten werden. | |
Anonyme Bestattung bedeutet: unter einer Wiese liegen, von der nächsten | |
Urne durch einen Pappkarton getrennt, kein Schild, keine Grabpflege. | |
Anonyme Bestattung heißt aber vor allem auch, niemandem zur Last zu fallen. | |
Deswegen will Pfarrer Quandt der alten Dame in seiner Gemeinde moralisch | |
keinen Vorwurf machen, die ihn gerade vorsorgend um eine anonyme Bestattung | |
für sich selbst bat. „Sie reagiert nur auf eine gesellschaftliche | |
Situation, in der sie zu keiner anderen Entscheidung mehr kommen kann.“ | |
## Große Freiflächen, überwucherte Wege | |
Discount-Begräbnisse im Ausland, die platzsparende Urnenbestattungen, | |
Gemeinschaftsfelder, Seebestattungen und die Beisetzungen in den | |
Friedwäldern – all das führt dazu, dass viele Friedhofsflächen bald so | |
aussehen werden wie die von St. Jacobi II: große Freiflächen, verwachsene | |
Grabsteine, überwucherte Wege und an jedem fünften Grabstein ein | |
verblichener, gelber Zettel: „Angehörige bitte bei der Verwaltung melden“. | |
Fast die Hälfte aller Friedhofsflächen in Berlin sollen in den nächsten 30 | |
Jahren „aufgehoben“ werden, das heißt: geschlossen und verwertet – als | |
Bauland verkauft, in einen Park verwandelt oder anderweitig nutzbar | |
gemacht. So sieht es der 2006 vom Berliner Senat beschlossene | |
Friedhofsentwicklungsplan vor. | |
So, wie im Berliner Leise-Park zum Beispiel, wo die Kinder neben einem | |
Grabstein schaukeln und Familien dort picknicken, wo früher Familiengräber | |
lagen. Keine Mauern trennen die Lebenden und den Tod. Doch das ist nur die | |
eine Seite der Medaille, die glänzende, die lebendige, die „verwertbare“ | |
Seite. | |
## Discount-Bestattungen schon ab 700 Euro | |
„Verwertbarkeit“ ist das Stichwort in einer Gesellschaft, in der nach | |
Ansicht von Friedhofsverwalter Quandt „alles seinen Preis hat“. Alles, auch | |
der Tod. Das ist die andere Seite. Eine Beerdigung kostet heute im | |
Durchschnitt 2.500 Euro. Discountbestatter bieten eine Beisetzung schon ab | |
700 Euro an, da wird dann die Urne schon mal in ein anderes Bundesland oder | |
ins osteuropäische Ausland geschafft, wo die Friedhofs- und | |
Beisetzungsgebühren geringer sind. Früher gab es mal 2.000 D-Mark | |
Sterbegeld von der Krankenkasse. Heute gibt es nichts mehr. | |
Mit all diesen Dingen muss sich Endan Çetin nicht auseinandersetzen. In | |
seiner muslimischen Gemeinde gibt es keine anonymen Bestattungen. Çetin ist | |
38 Jahre alt, hat zwei kleine Kinder und steht mitten im Leben. Wenn er von | |
Friedhöfen und Tod spricht, religiös oder politisch, sprühen seine Sätze | |
vor Energie. Ein Drittel des Korans, sagt er, handele vom Tod und dem Leben | |
danach. Das ist die religiöse Seite. Auf politischer Ebene will er einen | |
Friedhof für Muslime, von Muslimen verwaltet. So etwas gibt es in Berlin | |
noch nicht. Auch das steht exemplarisch für fast die gesamte | |
Bundesrepublik. | |
Çetin arbeitet seit zehn Jahren ehrenamtlich in der Sehitlik-Moschee vor | |
dem städtischen Friedhof Columbiadamm. Hier werden auch Muslime begraben, | |
denn hier besitzen sie ein sogenanntes Nutzungsrecht für Teilflächen des | |
städtischen Friedhofs. Diese Konstellation einen „muslimischen Friedhof“ zu | |
nennen, hält Çetin für „Augenwischerei“. Denn verwaltet wird der Friedhof | |
vom Bezirksamt. Und wovon die städtischen und christlichen Friedhöfe zu | |
viel haben, hat die muslimische Gemeinde zu wenig: freie Friedhofsflächen. | |
## Muslimische Gräber sind für die Ewigkeit gedacht | |
Vergangenes Jahr gingen Berlin die Grabflächen für Muslime aus. | |
Bundespräsident Gauck, der Regierende Bürgermeister Wowereit und der | |
damalige Kulturstaatssekretär Schmitz besuchten die Moschee am Columbiadamm | |
und versprachen, Abhilfe zu schaffen. Hessen hat 2013 als erstes Bundesland | |
eine islamische Gemeinde als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt. | |
Damit hat die Vereinigung Kirchenstatus – und das Recht, einen eigenen | |
Friedhof zu verwalten. In Berlin dagegen wurden nur die Flächen bei der | |
Moschee am Columbiadamm und das Nutzungsrecht des Friedhofs in Gatow für | |
Muslime erweitert. | |
„Das reicht vielleicht für die nächsten fünf Jahre“, meint Çetin. Seine | |
Enttäuschung ist groß, denn bei der Mitnutzung städtischer oder christliche | |
Friedhöfe entstehen viele praktische Probleme: Muslimische Gräber sind für | |
die Ewigkeit gedacht. In mehrheitlich islamischen Ländern kaufen Familien | |
deshalb auch eine Grabstelle. Muslime, die in Berlin Angehörige bestatten, | |
müssen alle 20 Jahre kostenpflichtig das Liegerecht verlängern. Alle 20 | |
Jahre, bis in die Ewigkeit. Auch die Gräber Richtung Mekka auszurichten ist | |
oft kaum möglich. Denn auf den Friedhöfen sind die Gräber so in Reihen | |
angelegt, dass die Liegerichtung vorgegeben ist. | |
Trotzdem, Besucher haben sie viele, die muslimischen Gräber am Columbiadamm | |
und in Gatow. Alte Menschen, junge Familien. „Selbst atheistische Menschen | |
mit muslimischem Background bestehen auf der rituellen Waschung und dem | |
Totengebet“, erklärt Çetin am Columbiadamm. „Kulturmuslime“ werden sie | |
genannt, Muslime, die eine Beschneidung, die Hochzeit und das Begräbnis | |
nach islamischen Regeln organisieren, ohne jedoch tiefer im Glauben | |
verwurzelt zu sein. | |
## Frau Mayer kommt noch bis 2019 - dann ist Schluss | |
„Kulturchristen“ indessen werden immer seltener. Frau Mayer, die ihren | |
richtigen Namen nicht nennen will, ist eine der wenigen, die den Friedhof | |
St. Jacobi II noch täglich besucht. Sie erinnert sich noch gut an ihren | |
ersten Besuch, das war 1948, sie ging an der Hand ihrer Mutter, und ihre | |
Großmutter war gerade gestorben. Das Blumengeschäft, das heute noch als | |
Steinruine am Friedhofseingang zu sehen ist, hatte damals jeden Tag | |
geöffnet. | |
Sonntags ging Frau Meyer mit ihren Eltern auf den Friedhof statt in die | |
Kirche. Damals war der Friedhof so mit Grabsteinen gefüllt, dass die | |
Steinmetze mit ihren Schubkarren nicht mehr durchkamen, erinnert sie sich. | |
Heute hat sie Angst auf dem Friedhof. Vor den Fixern, obwohl sie weiß, dass | |
die ihr nichts tun. Junge Leute sieht sie hier nie, sagt Frau Mayer, | |
geschweige denn eine ganze Familie. Selbst am Totensonntag seien nur die | |
alten Menschen da, die auch sonst die Gräber ihrer Angehörigen instand | |
hielten. „Der Rest? Das sehen Sie ja selbst.“ | |
2019 wird Frau Mayer zum letzten Mal den Friedhof St. Jacobi II betreten. | |
Weil es auf dem Friedhof so schlimm aussieht, weil es keine echte | |
Grabpflege gibt und weil den Friedhof sowieso niemand mehr besucht, will | |
Mayer 2019, 20 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, das Familiengrab einebnen | |
lassen. „Alle hatten ihren Platz auf diesem Friedhof, aber ich werde hier | |
ganz bestimmt nicht mehr liegen.“ | |
9 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Hanne Bohmhammel | |
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