| # taz.de -- Langer Tag der StadtNatur: „Ein Rausch für die Zunge“ | |
| > Wie viel Natur steckt in der Metropole? „Ich erlebe oft eine gewisse | |
| > Skepsis“, sagt der Berliner Permakulturgärtner Martin Höfft. | |
| Bild: Nützliches Wildkraut aus dem Wald: Bärlauch. Beliebt als Pesto. | |
| Der Garten von Martin Höfft liegt gut versteckt in einem Häuserblock an der | |
| Neuköllner Richardstraße. Um dorthin zu gelangen, muss man das Café | |
| Botanico durchqueren, das Höfft seit 2013 mit seinem italienischen | |
| Schwiegervater im Souterrain des Vorderhauses führt. Wir treffen ihn bei | |
| einer der Führungen, die er regelmäßig anbietet. Aus einem scheinbaren | |
| Wirrwarr pflückt er Pflanzenteile zur Verkostung, süßes Fenchelkraut etwa | |
| oder die saftigen Blätter des Schildampfers: jedes einzelne eine kleine | |
| saure Geschmacksexplosion. Zum Interview gibt es aber echten Espresso. | |
| taz: Herr Höfft, die älteren Besucher Ihres Gartens schauten am Anfang | |
| ziemlich kritisch. Möglicherweise war es ihnen zu unaufgeräumt. | |
| Martin Höfft: Ich erlebe oft eine gewisse Skepsis. Gerade Leute, die selbst | |
| einen Garten haben, sind erst mal überfordert. Wenn man aber anfängt zu | |
| erklären, was alles essbar ist und was die Ideen dahinter sind, sind viele | |
| doch interessiert oder auch begeistert. Letztens war ein Gruppe aus Werder | |
| da, die erzählten mir, dass bei ihnen die Beete regelrecht geschrubbt | |
| werden. Dadurch entsteht aber ein Erosionsproblem, denn bei jedem Regenguss | |
| wird viel Bodenkrume herausgewaschen. Wenn der Boden bedeckt ist, hat man | |
| es viel einfacher. Man muss nur sein Gefühl von Ästhetik und von Kontrolle | |
| über die Natur ein bisschen ändern. Aber damit kämpfe auch ich noch täglich | |
| (lacht). | |
| Worüber staunen Ihre Besucher am meisten? | |
| Überrascht sind sie immer vom Giersch. Der gilt als Unkraut und | |
| Gärtneralbtraum, und ich gebe zu, dass er schwer in den Griff zu kriegen | |
| ist. Aber die jungen Blättchen machen sich ausgezeichnet im Salat: ein | |
| Geschmack zwischen Petersilie, Karotte und Sellerie. Sehr beliebt ist auch | |
| das Pfefferkraut, eine mehrjährige Kresse, die original wie Wasabi | |
| schmeckt. Der größte Aha-Effekt ist aber wohl die Parakresse, ein | |
| südamerikanisches Kraut, das einen eigenartigen prickelnden Reiz | |
| hinterlässt, einen kleinen Rausch für die Zunge sozusagen. | |
| Sie ziehen aber nicht nur Wildkräuter, sondern auch Bohnen, Kürbisse oder | |
| Tomaten. | |
| An Tomaten haben wir zurzeit zwischen zehn und zwanzig Sorten, eigentlich | |
| auch nur eine ganz kleine Auswahl. Aber da sind schon ganz unterschiedliche | |
| Geschmacksrichtungen und Konsistenzen dabei. Und eine Wildtomatensorte kann | |
| man sogar noch im November oder Dezember ernten. | |
| Laut Ihrer Website ernten Sie quasi das ganze Jahr über. Eigentlich schwer | |
| vorstellbar. | |
| Aber das ist die Idee. In der Natur überleben viele Pflanzen ja auch im | |
| Winter und sterben nicht nach der Ernte ab. Durch die große Vielfalt an | |
| Pflanzenarten können wir immer etwas Frisches aus dem Garten anbieten. | |
| Geht das ohne Gewächshaus? | |
| Ja. Ich nutze nur einen Vliestunnel, um die Pflanzen ein bisschen gegen die | |
| Kälte zu isolieren. Diesen Winter hatten wir Glück, es gab nur eine Woche | |
| mit minus 17 Grad, da kann man nicht ernten. Aber danach ging es weiter: | |
| Feldsalat, Winterkresse, Tellerkraut, Wintersenf, Topinamburknollen und | |
| winterharte Kohlsorten. | |
| Ist alles, was Sie im Café verarbeiten, hier gewachsen? | |
| Nein, aber das ist auch nicht der Anspruch. Wir wollen die kurzen Wege, die | |
| Frische und die Vielfalt unseres Gartens nutzen. Den Kaffee bauen wir | |
| genauso wenig an wie den Reis fürs Risotto. Aber der Salat und das meiste | |
| Gemüse kommt aus dem Garten. Dabei ist die Idee, dass sich die Speisekarte | |
| am Garten orientiert. Der Koch sagt nicht, „in vier Wochen brauche ich | |
| grüne Bohnen“ – er fragt: „Was erntest du morgen?“ | |
| Wie kommt man auf die Idee, mitten in der Stadt Lebensmittel für sein | |
| eigenes Café zu produzieren? | |
| Ich habe schon früher Selbstversorgergärten gehabt, und als meine Familie | |
| und ich vor vier Jahren die Remise hier mieteten, haben wir diese Parzelle | |
| entdeckt. Nur für uns alleine war das Grundstück mit 1.000 Quadratmetern | |
| aber zu groß und zu teuer, ich brauchte also eine Vermarktungskomponente. | |
| Wir haben uns dann entschieden, Wildkräuter und Gemüsesorten zu | |
| produzieren, die gastronomisch sofort aufgearbeitet werden. Die Idee stammt | |
| eigentlich von meinem Schwiegervater, der in Rom und Paris verschiedene | |
| Restaurants geführt hat. | |
| Solche Grundstücke findet man ja nicht auf Schritt und Tritt – was war denn | |
| hier vorher? | |
| Ein paar Kleingärten, die zum Nachbarhaus gehörten und seit Jahren nicht | |
| mehr genutzt wurden. Entsprechend sah es aus, mit rausgewachsenen | |
| Christbäumen und allem möglichen Gestrüpp. Ich bin aber nicht mit der Fräse | |
| durch, sondern habe nach und nach Wege und Pflanzen wiederentdeckt, das war | |
| die reinste Archäologiearbeit. Viele der Pflanzen, die heute hier wachsen, | |
| habe ich wieder freigelegt und in Kultur genommen: Rosen, Himbeeren, | |
| Walderdbeeren, Bärlauch. | |
| Insgesamt wirkt das Gelände schon noch ziemlich wild. Mit anderen Methoden | |
| könnten Sie mehr erzeugen, oder? | |
| Das ist nicht gesagt. Man darf nicht vergessen, dass hier unzählige | |
| Pflanzen in verschiedenen Wuchsstadien auf engstem Raum beieinander stehen, | |
| und wir jeden Tag ernten. Im selben Beet wächst nicht nur erntereifes | |
| Gemüse sondern auch samenreife Pflanzen zur Saatgutgewinnung, Jungpflanzen | |
| für die Ernte im nächsten Jahr und frisch ausgekeimte, oft essbare | |
| „Unkräuter“. Ganz ähnlich wie in der Natur auch. Generell versuche ich hi… | |
| ein System zu entwickeln, das naturnah ist und Ressourcen schont. Ich | |
| orientiere mich am Prinzip der Permakultur. | |
| Das müssen Sie erklären. | |
| Permakultur ist die vielleicht nachhaltigste Form der Landwirtschaft. Die | |
| Konzepte und Methoden schließen ökologische, ökonomische und soziale | |
| Aspekte gleichermaßen ein und bieten Anleitungen, unseren Lebensraum in all | |
| diesen Bereichen nachhaltig zu optimieren. Dabei geht es ausdrücklich nicht | |
| um das Maximieren eines kurzfristigen Ertrags, sondern um die | |
| kontinuierliche Verbesserung der Lebensbedingungen aller Beteiligten. Es | |
| gibt kein eindeutiges Modell, wie ein Garten auszusehen hat. Stattdessen | |
| geht man als teilnehmender Beobachter hinaus und überprüft seine Pläne und | |
| Visionen immer wieder anhand der Realität. | |
| Auf Ihrer Speisekarte steht auch Fleisch. Vertragen sich Permakultur und | |
| Parmaschinken? | |
| Grundsätzlich ja. Wenn man diversifizierte, vielfältige Lebensräume | |
| anstrebt, macht es Sinn, Nutztiere darin zuzulassen und artgerecht zu | |
| halten, weil sie Nährstoffe aus Gras und anderen Pflanzen aufnehmen, die | |
| wir Menschen nicht verdauen können. Im Winter bekommen wir auch Wild von | |
| einem Brandenburger Jäger. Ich finde es natürlich und passend, so etwas zu | |
| essen, wenn es keine Tomaten im Garten gibt. Dann gibt’s eben | |
| Wildschweinragout mit Pasta. | |
| 13 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
| ## TAGS | |
| Stadtnatur | |
| Landwirtschaft | |
| Balkon | |
| Urban Gardening | |
| Obst | |
| Stadtnatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Genossenschaft für Ökolandbau: Eine Crowd für Permakultur | |
| Das Dresdner Startup Permagold sammelt Geld für Flächen, die für das „neue | |
| Bio“ beackert werden sollen. Richtlinien und Siegel gibt es noch nicht. | |
| Sommer auf dem Balkon: „Kürbisse sind eher für Dachterrassen“ | |
| Ökologisch bepflanzte Balkone sind naturschonend, ziehen Insekten und Vögel | |
| an und dienen damit dem Umweltschutz in der Stadt, erklärt Karla Paliege | |
| vom Nabu. | |
| Naturerfahrungen: „Ich war Kampfkartierer“ | |
| Der Bremer Extrembotaniker Jürgen Feder spricht im Interview über | |
| kaukasischen Lauch, Stefan Raab, sein neues Buch und die Angst vor der | |
| Natur | |
| Mundraub.org über Fallobst: „Die Stadt ist ein Proviantlager“ | |
| Obst? Gemüse? Frei verfügbar, überall, für alle. Andie Arndt von | |
| mundraub.org will aber nicht nur ernten. Sondern auch für die Allgemeinheit | |
| pflanzen. | |
| Tauben in der Stadt: Gentrifizierung aus der Luft | |
| Die Städte sind ideal für die Körnerfresser. Außerdem ist es dort wärmer | |
| als auf dem Land. Am liebsten halten sie sich inmitten von Menschen auf. |