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# taz.de -- Assoziierungsabkommen mit Georgien: Fast schon Europäer
> Mit Hoffnung und Skepsis schauen die Georgier auf Europa. Und auf den
> Nachbarn Russland, der die Annäherung zur EU verhindern will.
Bild: Pro-europäische Demonstration in Tiflis, mit den Flaggen Georgiens und d…
TIFLIS taz | Schon der erste Europäer war ein Georgier, der sich in
Dmanisi, nicht weit von der heutigen Hauptstadt Tiflis, niederließ. Der
Vorfahr des Menschen kam als Emigrant vor rund 1,7 Millionen Jahren aus
Afrika in den Kaukasus. Das jedenfalls ergaben Forschungen des
Paläoanthropologen David Lordkipanidze. Einen älteren Europäer hat die
Wissenschaft bisher nicht entdeckt.
„Georgiens europäische Ansprüche sind nichts Neues, sie reichen von der
Frühgeschichte bis heute“, sagt Lordkipanidze, Leiter des georgischen
Nationalmuseums. Jener erste Immigrant markierte einen der wichtigsten
Momente in der menschlichen Evolution – die Wende zum aufrechten Gang! An
den Südhängen des Kaukasus wurde schon immer große Geschichte geschrieben,
die weit über die Region hinauswies.
Und dennoch – so richtig zu Europa dazugehört haben die Georgier nie. Auch
jetzt müssen sie wieder kämpfen. Diesmal geht es weniger um die Anerkennung
des skeptischen EU-–Europa als um den Unsicherheitsfaktor Russland: Wird
der nördliche Nachbar den Traum zerstören?
Beim EU-Gipfel am Freitag werden die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine,
Moldau und Georgien unterzeichnet.
Kaum ein Georgier wagt, eine klare Prognose über die Reaktion aus Russland
abzugeben. „Wir sind von unserem Nachbarn alles gewöhnt“, meint der Chef
der Denkfabrik GFSIS, Alexander Rondeli. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR
vor 23 Jahren wurde georgisches Gebiet besetzt, Krieg entfacht und mehrfach
ein Embargo verhängt. Noch sei Russland nicht bereit, Georgien aus seinem
Einflussbereich zu entlassen.
Jeder Fuß Boden, der an die EU falle, sei – im Denken des Kreml – endgült…
verloren. Häufig wird in Tiflis auf die aus dem Jahre 2010 stammende
„außenpolitische Konzeption der Russischen Föderation bis 2020“ verwiesen,
wonach der EU-Beitritt eines postsowjetischen Staates größeren Schaden
anrichtet als dessen Nato-Mitgliedschaft.
## Niemand gibt sich der Illusion hin
An die Konzeption einer für beide Seiten gewinnbringenden Beziehung – einer
Win-win-Situation – wagt sich der Kreml gedanklich nicht heran. Warum? „Wir
erklären immer den russischen Staat zum gewalttätigen Bösewicht und stellen
ihm das unschuldige Volk gegenüber“, sagt Rondeli. Tatsächlich sei aber
auch das Volk von jenem Imperialismusvirus befallen, das den Anrainern das
Leben zur Hölle mache. Zeige sich die Nähe von Volk und Staat nicht gerade
in der überwältigenden Zustimmung zu der Intervention in der Ukraine?
Auch Regierungspolitiker verbergen ihre Nervosität hinter Floskeln. „Wir
liefern Russland keinen Anlass zur Verärgerung“, sagt der Minister für
euroatlantische Integration, Alexander Petriaschwili. Reicht das zur
Friedenssicherung? 40 Kilometer von Tiflis im besetzten Südossetien stünden
russische Truppen auf georgischem Boden. Ob da von Frieden die Rede sein
könne, fragt der Minister rhetorisch und sagt: „Wir sind auf alle möglichen
Szenarien vorbereitet.“
Trotz aller Unwägbarkeiten hält das Land am Westkurs fest. Regierung und
Opposition sind sich darin einig. Niemand gibt sich jedoch der Illusion
hin, im Konfliktfall von EU oder Nato Beistand zu erhalten. Dafür ist die
Erinnerung an den russischen Blitzkrieg 2008 noch zu lebendig. Nach dem –
von Russland provozierten – Angriff Georgiens auf den Nachbarn und dem
russischen Einmarsch erklärte der Kreml die abtrünnigen Gebiete Südossetien
und Abchasien zu unabhängigen Staaten.
Die westliche Welt schaute ratlos zu und zwang Russland auch danach nicht,
die Waffenstillstandsvereinbarungen umzusetzen. Die Verweigerung wird
stillschweigend hingenommen. Dass viele Georgier darin einen Freibrief für
Russland sehen, sich all das noch zu holen, was es als das Seinige
betrachtet, verwundert nicht. Ihr EUler werdet schon sehen, wo solche
Nachsicht endet, so der Tenor.
## Dänische Märchenerzähler
Aus der Enttäuschung machen die Georgier kein Hehl. Humor hilft ihnen
drüber hinweg: Zwei dänische Märchenerzähler seien in Georgien populär,
heißt es, Hans Christian Andersen – und Fogh Rasmussen. Letzterer ist
Nato-Generalsekretär. Obwohl Georgiens Truppen im Irak und in Afghanistan
mit hohen Verlusten im Einsatz waren, wird die Aufnahme in den Membership
Action Plan (MAP) der Nato immer wieder hinausgeschoben.
Die Ernüchterung spiegelt sich auch in der rührenden Unterstützung und
Anteilnahme für die Ukraine wider. Deren blau-gelbe Flagge hängt an
Fenstern und steckt in Blumenkästen. Im Fernsehen ist die Ukraine ständig
präsent. Und auch in der Nationalgalerie am Prachtboulevard Rustaweli
werden Jutetaschen in den ukrainischen Farben feilgeboten mit einem
zusätzlichen Badge: „Zwei Länder – ein Herz“.
Georgiens Expräsident Michail Saakaschwili soll zurzeit der neuen Regierung
in Kiew unter die Arme greifen. Zu Hause hatten sie ihn nach knapp zehn
Jahren im Amt satt. Er war es aber, der Georgien reformierte, aufs Gleis in
Richtung Westen setzte und sich – wenngleich zähneknirschend – dem
Wählerwillen beugte. Inzwischen ist der Brass verflogen.
Denn Georgien hat es geschafft, sich vom Image eines failing state zu
befreien, was vor allem von russischer Seite verbreitet wurde, meint Lasha
Bakradze, Direktor des georgischen Literaturmuseums. Die Georgier wollten
nicht nur nach dem Gesetz leben, sie hätten auch die nötige Reife erlangt.
„Russland ist keine Alternative mehr, der Staat funktioniert dort
schlechter als bei uns“, sagt Bakradze.
## Schrecken westlicher Verkommenheit
Moskau versucht seit anderthalb Jahren, mithilfe der orthodoxen georgischen
Kirche die Stimmung langfristig noch umzukehren, Georgiens Traditionalisten
doch noch für Putins Projekt einer „Internationale der Reaktion“ zu
gewinnen. Aufhänger sind Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe,
Sexualkundeunterricht in Schulen – kurzum: westliche Verkommenheit. Ein
prorussischer Aktivist verbreitet im Fernsehen etwa, Inzest wäre in der
Schweiz wieder erlaubt, und in der EU würden Pornos im Unterricht gezeigt.
Auch die Hatz gegen Schwule verfehlt in der traditionalistischen
Gesellschaft ihre Wirkung nicht.
Da half auch der Einsatz eines EU-Botschafters nichts, der versicherte,
trotz Lektüre des homophilen Philosophen Platon nicht schwul geworden zu
sein. Im Mai 2013 veranstaltete eine Zehntausend zählende Menge eine
Treibjagd auf 17 Demonstranten aus dem LGBT-Lager. Ein Heer von schwarzen
Kutten und älteren Frauen raste, mit Brennnesseln bewaffnet, wie Furien
durch das Stadtzentrum, um den Antichrist zu peinigen. Das Land war
schockiert. In diesem Frühjahr verabschiedete das Parlament dennoch das
Antidiskriminierungsgesetz einstimmig. Es war Voraussetzung für das
Assoziierungsabkommen. Auch auf der Straße blieb es ruhig.
Mit 90 Prozent Zustimmung genießen Kirche und Patriarch höchste Autorität.
Offiziell befürworten Kirche und Partriarch auch die Westausrichtung, der
niedere Klerus schielt jedoch nach Russland. Aber Beobachter sind sich
sicher: Vor die Wahl zwischen Russland und EU gestellt, würden selbst
Traditionalisten nicht zaudern, für die EU zu stimmen.
## 85 Prozent entschieden sich für EU und Nato.
Der Glaube sei nur Ritual und habe nichts mit dem Bedürfnis nach
Spiritualität zu tun, meint Professor Alexander Rondeli: „Wir Georgier sind
nun mal Schauspieler und lieben Theatralik“.
Die Integration in den Westen sei die Wahl der Georgier gewesen, betont
Minister Petriaschwili. 85 Prozent entschieden sich für EU und Nato.
Inzwischen möge die Zustimmungsrate etwas gesunken sein, weil viele mehr
erwartet hätten, räumt Ani Achalkatsi ein, verantwortlich für die
EU-Integration bei der georgischen Open Society. Die Tendenz ändere dies
jedoch nicht.
Beim Abschlusskonzert letzte Woche am Konservatorium in Tiflis stimmten die
Studenten zum Ausklang die EU-Hymne an. Der ganze Saal erhob sich und sang
mit. Er sei überwältigt, sagte ein zufälliger Gast aus dem alten Europa:
von der magischen Kraft der EU als Hoffnungsträger.
27 Jun 2014
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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