# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 2. Juli: Folgen des Sarajewoer Attentats | |
> Österreich-Ungarn ist ein kranker Staat, der nur durch die Autorität | |
> eines 84-jährigen Kaisers zusammengehalten wird. Die Krise kann einen | |
> Weltkrieg auslösen. | |
Bild: Kurz vor dem Attentat auf das Thronfolgerpaar am 28. Juni 2014. | |
Aus Wien wird uns vom Dienstag, den 30. Juni, geschrieben: | |
Will man über die Folgen, die die Bluttat von Sarajewo nach sich ziehen | |
wird, Klarheit gewinnen, so braucht man sich nur die folgende Tatsache zu | |
vergegenwärtigen: der regierende Kaiser ist 84 Jahre alt und der Anwärter | |
auf den Thron steht im 27. Lebensjahr. | |
Nun ist das habsburgische „Reich“ ein ungemein verwickelter Staat , und die | |
so viel gerühmte Regentenweisheit Franz Josefs, an der wenigstens eine | |
lange, in Irrungen und Wirrungen gewonnene Erfahrung echt ist, hat es nicht | |
verhindert, dass das „Reich“ unfähig war, sich auch nur aus den | |
gröblichsten Schwierigkeiten herauszuarbeiten, dass der Zusammenhang seiner | |
Teile brüchiger ist denn je und die auseinandertreibenden Kräfte zu einer | |
Einheit nicht geknüpft sind; wie werden sich aber die Dinge erst anlassen, | |
wenn die organische Spitze ohne jede Erprobung ist, wenn ihr die Erfahrung | |
fehlt, wenn sie auch der Autorität entbehrt, die der alte Kaiser, der das | |
Ungemach des Lebens nicht selten so hart erfuhr, in einem so starken Maße | |
darstellt! | |
Und das bange Gefühl der Patrioten steigert sich natürlich noch durch die | |
Erwägung, dass der Kaiser schon wirklich recht alt ist, der Tag also immer | |
näher kommt, da sich die Zeit der menschlichen Kreatur vollendet, der | |
Übergang von dem hohen Alter zur Unerfahrenheit der Jugend den Staat nun | |
ohne jede Vorbereitung treffen wird! Wohl haben die einsichtigen Leute in | |
Österreich dem Ferdinandeischen Regieren mit unverkennbarer Vollkommenheit | |
entgegengefiebert; aber der Altersschwäche oder der jugendlichen Unreife zu | |
verfallen, ist gleichfalls keine angenehme Aussicht. | |
Es mag sein, dass die Vorstellung von der Kraft und der Energie, von dem | |
zielbewussten Wollen und den gefesteten Anschauungen Franz Ferdinands, was | |
alles jetzt in den Retrologen so farbenprächtig gemalt wird, mehr und | |
minder Einbildung war. Aber manche Patrioten glauben daran, und so schien | |
ihnen die Zukunft geborgen. Nun hat die Kugel des serbischen Fanatikers in | |
das, was das sicherste schien in dem Staate, in dem so ziemlich alles | |
unsicher ist, die stärkste Lücke gerissen. Und so entsteht und verbreitet | |
sich das Gefühl, dass alles wankt und schwankt! | |
Man mag über die Angemessenheit der monarchischen Regierungsform mit dem | |
prinzipiellen Urteil zu Ende sein; in Österreich hat aber der Monarch | |
Aufgaben über die bloße Repräsentanz hinaus. In dem Krieg der Nationen, in | |
dem Staatsrechtlichen Wirrwarr ist er eben der naturgemäße Mittler! Schon | |
das Dasein des Dualismus legt ihm diese Aufgabe auf. | |
Dazu kommen noch die Wirren in beiden Staaten, die, wohlgemerkt, nicht das | |
Resultat der Klassenkämpfe allein sind, bei denen der Monarch also, wenn er | |
für die Besitzenden nicht gerade Partei nehmen will, nicht viel zu tun hat, | |
die vielmehr die unentrinnbare Folge der Zusammensetzung dieser Staaten, | |
also von ihnen nicht zu trennen sind, die also vielleicht gemildert und | |
beschwichtigt werden können, im Rahmen dieser Staatenordnung aber nicht | |
lösbar sind. Und die unseligste dieser die natürliche Entwicklung störenden | |
und hemmenden Tatsachen: die Angliederung Bosniens und der Herzegowina, aus | |
der die Todfeinschaft Serbiens entstanden ist, die nun, durch die | |
Verknüpfung mit den Bosheitsabsichten des Zarismus, die ständige Gefahr des | |
Krieges heraufbeschwört, der ein Weltkrieg werden könnte und jedenfalls der | |
Krieg um Bestand und Zukunft des ganzen Habsburgerstaates wäre. In diesem | |
Staatschaos hat nun der Kaiser die Aufgabe, den zentrifugalen Tendenzen zum | |
Trotz, „die an dem Bau rütteln, den jeder totgeglaubt“, wenigstens die | |
oberste Einheit des Reiches zu erhalten, die Daseinsmöglichkeiten, die ja | |
die Existenz seiner Herrschaft erschließen, ihm zu sichern. | |
Und das soll nun ein Monarch leisten, dem dafür wohl alle Vorbedingungen | |
fehlen! Die der individuellen Begabung, der Kenntnis der Dinge, der | |
Erfahrung von der Gewalt der Tatsachen – eben alles, was unerlässlich ist, | |
soll die österreichische Staatlichkeit nicht wie ein Wrack an ihren | |
Schwierigkeiten zerschellen! | |
Mit diesem bedrohlichen Wachstum der inneren Krisen dieses Staates vermehrt | |
sich aber auch seine internationale Gefahr; er wird immer mehr die | |
eigentliche Gefahrenquelle in Europa. Nun galt Franz Ferdinand, der | |
Imperialist, wohl immer als das Haupt jener anonymen Kriegspartei in | |
Österreich, die man zwar nicht sieht, deren unheilvoller Einfluss aber | |
immer fühlbarer ward. Indes besteht diese Kriegsgefahr hauptsächlich in dem | |
Mangel der Konsolidierung des Staates; je brüchiger der Zusammenhang seiner | |
besparten Teile wird, desto größer der Appetit der vielen Nachbarn, die an | |
ihm Beute machen können; desto stärker auch der Anreiz, den „großen Tanz“ | |
zu wagen, von dessen Ausgang der Bestand Österreichs als Großmacht abhängt. | |
Dagegen bedeutet die Kräftigung des Staates, natürlich nicht etwa jene | |
militärische Kräftigung, woran die Imperialisten immer denken und die | |
allein sie im Sinne haben, sondern seine Kräftigung als Staat, seine | |
Entwicklung zu einem gesunden und den Fortschritt für alle Nationen | |
verbürgenden Staatswesen, ganz bestimmt die Minderung der Gefahr; der | |
Appetit würde danach dem Gegner eher vergehen. Ob Franz Ferdinand sich der | |
Notwendigkeit dieser Entwicklung bewusst war, ob er die Fähigkeit gehabt | |
hätte, sie zu begreifen, ob er der Mann gewesen wäre, sie zu erfühlen: das | |
alles sind heute Fragen ohne Wert, wären müßige Erwägungen. Wohl aber | |
erhebt sich vor Österreich-Ungarn und erhebt sich vor Europa die Frage, ob | |
es das Regime, das wir heute haben, oder das, was wir in Bälde haben | |
werden, zuwege bringen wird, und diese Frage wird wohl niemand bejahen | |
wollen. | |
Für die Habsburgische Monarchie ist es aber die wahre Schicksalsfrage, und | |
so ist es nur allzu begreiflich, dass die Patrioten das Gefühl haben, es | |
sei von den schwachen Stützpunkten der schwarzgelben Staatlichkeit am | |
Sonntag der vergleichsweise tragfähigste abgerissen worden. Man bangte | |
davor, was mit der Ära Ferdinands kommen könnte, und bangt nun davor, wie | |
es ohne Franz Ferdinand werden soll! | |
Es ist wirklich ein trauriger, ein kranker Staat, dieses Habsburgische | |
Imperium, das von der Macht und Gewalt der nationalen Strömungen und | |
Bedürfnisse zerrissen und zerbröckelt wird. Ein Staat eben, der immer in | |
Frage steht und sich nie zu finden vermag; zu dem man sich nicht bekehren | |
kann und von dem man nicht fortkommen wird. Die Kräfte der Vergangenheit | |
taugen nicht, und neue Ideen müssten sich durchdringen, um ordnend auf die | |
Bahn der Gesundung zu führen. | |
Quelle: Vorwärts | |
2 Jul 2014 | |
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