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# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 28. Juni: „Die großserbische Bluttat“
> Ein historischer Zeitungsbericht: „Das Attentat von Sarajewo hat gezeigt,
> wie gefährlich der großserbische Nationalismus ist. Es gilt, einen
> Weltkrieg zu verhindern.“
Bild: „5 Minuten vor dem Attentat“: Postkarte zum Attentat auf Franz Ferdin…
Europa hat über Nacht eine der ernstesten Gefahren entdeckt, von denen
seine Ruhe, von denen der friedliche Fortbestand aller Verhältnisse dieses
Erdteils bedroht ist: die großserbische Bewegung, die im Sinne ihrer
Urheber nur durch einen Weltkrieg zu lösen ist. Sie ist nicht neu. Zurzeit
der bosnischen Krise hat man sie erkannt und begriffen. Inzwischen vergas
man sie über Albanien und der Ägäis und anderem. Jetzt wirkt die Bombe von
Sarajewo wie ein Signal.
Warum ist Franz Ferdinand ermordet worden? Die Ereignisse geben eine höchst
seltsame Antwort: slawische Kugeln haben den größten Freund der Slawen in
Österreich-Ungarn niedergestreckt, in der Hauptstadt Bosniens, das von
einem slawischen Minister regiert wird. Darin liegt der Widersinn der
Schandtat von Sarajewo, aber auch ihr tiefer Sinn. Die großserbischen
Agitatoren diesseits und jenseits der Drau kannten den Erzherzog ganz
genau.
Sie wussten, dass er ein fertiges Programm zur friedlichen Lösung der
schwierigen südslawischen Frage im Kopfe trug, dass er jetzt schon mit
Erfolg daran arbeitete es in die Wirklichkeit umzusetzen, dass sein Besuch
in Sarajewo ein Teil dieses Programms war. Aber was er wollte: die
Versöhnung der Südslawen mit Österreich unter Rettung des Bestandes der
Monarchie, das eben wollen sie nicht. Die Zerstörung Österreichs ist ihr
ceterum censeo, und bei diesem streben wissen sie starke Mächte hinter
sich. Der Thronfolger von dem die Verwirklichung der trialistischen Idee zu
erwarten war, musste fallen, nicht weil er der Feind, sondern weil er der
Freund der Serbokroaten war.
Man hat in Europa den serbischen Kronprinzen Georg verlacht, der zur Zeit
der Annexion Bosniens den Krieg gegen Österreich predigte, um den Traum des
großserbischen Königreichs zu verwirklichen. Auch hat man über den Grafen
Ährenthal den Kopf geschüttelt, der seine Unterdrückungspolitik gegen die
Serben und Kroaten in der Monarchie mit Beweismitteln über großserbische
Umtriebe stützen wollte, die sich vor Gericht als falsch erwiesen haben.
Ebenso wenig hat man von dem erbitterten Kampfe zwischen den Ungarn und der
kroatisch-serbischen Koalition bei uns Aufhebens gemacht, von der
Abschaffung der Verfassung und dem absoluten Regiment des königlichen
Kommissars v. Cuvaj in Agram; höchstens, wenn auch dort einmal die Revolver
der jugendlichen Exaltados knallten, horchte man vorrübergehend hin. Heute
weiß man, dass die Dinge sehr ernst geworden sind.
Infolge des siegreichen Krieges gegen die Türkei, der das
Nationalbewusstsein der Serben im Königreiche mächtig anschwellen ließ,
fingen auch die siebeneinhalb Millionen Kroaten und Serben in Kroatien,
Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Görz und Gradisca und Dalamiten ihre
Zusammengehörigkeit mit dem serbischen Volksstamm ganz anders als vorher zu
empfinden an.
Nun war Serbien ihr Piemont, hier lag in ihren Augen die Zukunft, und
Österreich, dass sich den Weg nach Südosten ein- für allemal verbauen ließ,
erschien ihnen als eine sinkende Macht. Ganz allmählich hat sich, während
der Unverstand der magyrischen Unterdrückungspolitik die Dinge in Ungarn
auf die Spitze trieb, dieses Empfinden immer mehr in die Herzen
eingeschlichen. Es hat sich da im Inneren des reiches etwas Ähnliches
vollzogen wie außerhalb seiner Grenzen in Rumänien.
Dann deckte man den Brunnen zu, nachdem das Kind hineingefallen war. Tisza
musste in Kroatien mildere Saiten aufziehen, und die Verfassung wurde
wiederhergestellt, aber den Bonus der auf den Kommissar v. Cuvaj folgte,
machte ein Schuss in die Hand klar, dass es schon reichlich spät war. Man
fing auch in Bosnien und der Herzegowina an, sich gegen die Ausschreitungen
der nationalistischen Propaganda, in der sich besonders die Jugend
hervortut, weniger empfindlich zu zeigen. All das waren Anzeichen dafür,
dass sich die Politik des Thronfolgers, die Südslawen durch eine gewaltige
Stärkung ihrer Stellung im Reich zu gewinnen, der Verwirklichung nähern
sollte.
Er hat sich über diese Politik nie ausgesprochen, aber einiges ist doch
durch die Feder ihm Nahestehender bekannt geworden. Man weiß, dass er die
Magyaren nicht sehr liebte, und schon um ihren Einfluss auf die innere
Politik des Gesamtreichs einzudämmen, mit dem Gedanken liebäugelte, den
Dualismus von 1867 durch ein neues „trialistisches“ Föderativsystem zu
ersetzen, dass dem großen südslawischen Komplex seine volle Autonomie und
seinen besonderen Reichstag in Agram bringen sollte.
Eine glatte Verwirklichung dieses Programms, gegen das […] aus
nationalistischen Gründen bei allen Parteien des Reichsrats und noch mehr
des ungarischen Reichstags die schärfsten Wiederstände rührten, war nicht
denkbar. Und doch zeigte es die einzige Richtung, in der sich mit einiger
Aussicht auf Erfolg Österreichs Mühen bewegen konnte, die dritte der großen
Nationalitätenfragen, die südslawische Frage, zu seinen Gunsten zu
entscheiden. Noch regiert ja auf Österreichs Thron der Kaiser, unter dem
die beiden anderen, die deutsche und die italienische Frage, zu seinen
Ungunsten entschieden worden sind.
In der Bombenzentrale der großserbischen Bewegung, mag sie in Belgrad und
anderswo sein, hat man das Mittel gefunden, ein Fortschreiten auf dieser
Bahn zu verhindern. Eine unerhörte Gewalttat, wie die gestrige, muss eine
Politik durchkreuzen, die den österreichischen Serben die Erfüllung ihrer
Wünsche verspricht, und sie dem Traum des allserbischen Reiches, das um den
Preis eines Weltbrands zu gewinnen wäre, abspenstig macht.
Man wird jetzt wohl in Wien ein geneigteres Ohr für die Ratschläge aus
Budapest haben und den geduldigen Herrn v. Bilinsti als Sündenbock in die
Wüste schicken. Ein straffes Polizeiregiment dürfte einsetzen um der
Autorität des Staates willen, obschon jeder staatsmännische Kopf sich sagen
müsste, dass verstärkter Gegendruck dem erneuten Drucke folgen muss. „Wir
sind Gegner des Imperialismus“, haben die serbischen Mörder gesagt, und
unter Imperialismus verstanden sie Österreich.
Das Attentat ging nicht gegen die Person, sondern gegen den Staat. Des
Erzherzogs ganzes Denken ist, man mag über seine Politik sonst denken, wie
man will, auf die Erhaltung dieses Staates errichtet gewesen. Darum musste
er fallen. Was man nun auch gegen sie tun möge, die großserbische Bewegung
wird jetzt mit verdoppelter Macht einsetzen.
Wie man auch in Belgrad und sonst in den allslawischen Kreisen die Hände in
Unschuld waschen möge, man wird dort mit erneutem Eifer und neuer Hoffnung
im Busen zu allem seinen Segen geben, was den Tag der Lösung der
südslawischen Frage durch die Zertrümmerung Österreichs näherrückt. Und
darum ist die großserbische Gefahr heute eine der drohendsten und eine der
bedenklichsten, die uns alle angeht. Man soll nicht mehr von der Politik
des Dreibundes reden, ohne an sie zu denken.
Quelle: Berliner Tagblatt
28 Jun 2014
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