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# taz.de -- Shermin Langhoff im Interview: "Es darf keine Arschlöcher geben"
> Die Erfinderin des "postmigrantischen Theaters" und Intendantin des Maxim
> Gorki Theaters Shermin Langhoff im Gespräch.
Bild: Hat gerade das erste Jahr ihrer Intendanz hinter sich gebracht: Shermin L…
taz: Frau Langhoff, jetzt ist Sommerpause, und damit liegt Ihre erste
Spielzeit als Intendantin des Maxim Gorki Theaters hinter Ihnen. In allen
Inszenierungen ging es immer um die Themen Identität und Heimat. Warum?
Shermin Langhoff: Ich sehe das Gorki als Stadttheater. Wem gehört die
Stadt, ist eine zentrale Frage. Welche Stadt hat jeder, der in Berlin lebt,
in seinem Kopf? Ist das in meiner Topografie, dass es die Bibliothek X
gibt? Kenne ich dieses Theater? Es geht um Zugänge, Verteilung von
Ressourcen, aber auch um Repräsentation: Werde ich repräsentiert, finde ich
mich wieder? Theater ist immer wieder eine Befragung der identitären
Konzepte, der Wahrnehmungen, der Zuschreibungen. Weil natürlich genau die
Diskurse, die sich sehr eng um Identität drehen, selbst das Problem sind.
Wir leben in einer Gesellschaft, die auch der Wertkonservativste als divers
anerkennen muss. Und da entsteht die Frage: Wo ist der Common Ground?
„Common Ground“ heißt eines der erfolgreichsten Gorki-Stücke dieser
Spielzeit, das die mitwirkenden Schauspieler unterschiedlichster Herkunft
auch in einer Recherchereise nach Bosnien entwickelt haben. Gleichzeitig
bezeichnet der Begriff in der Diskurstheorie die Basis zwischenmenschlicher
Verständigung.
Für die Politik stellt sich auch die neue Frage nach dem Zusammenhalt
dieser diversifizierten Gesellschaft. Was wird verschleiert mit
Stellvertreterdiskussionen um kulturelle Herkunft und ethnische
Zugehörigkeiten? Klar sind das Themen, Heimat und Identität, mit denen wir
uns beschäftigen, aber ohne nach der einen Identität, nach der einen Heimat
zu suchen.
In seiner Festrede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes vor dem Deutschen
Bundestag hat der deutschiranische Schriftsteller und Orientalist Navid
Kermani Ende Mai von den „nicht nur Deutschen“ geredet, während
Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede etwas altbacken von den
„Altdeutschen“ sprach. Geht es auch um Begriffsbildung am Gorki für unsere
heutige diversifizierte Gesellschaft?
Begriffe schaffen Bedeutung. Ich denke, dass beide Reden Meilensteine in
der Realpolitik sind. Auch Gaucks Rede war sehr progressiv. Immerhin hat er
ein neues „Wir“-Konzept vorgestellt. Navid Kermani hat dem Bundestag Würde
verliehen durch seine Rede, in der er an die Grundsätze dieses
Grundgesetzes erinnerte und dazu aufforderte, diesen Grundsätzen Würde zu
verleihen und danach auch zu leben. Auch kann ich eine gewisse Dankbarkeit
verstehen – aus meiner Biografie heraus: dass er als Einwanderer zum
Literaten werden und heute dort im Bundestag sprechen kann, verdient
durchaus Anerkennung. Sicher gibt es Länder wie den Iran…
… wo es, wie Kermani sagte, undenkbar wäre, dass jemand, der „nicht nur
deutsch“ oder „nicht nur Iraner“ ist, die wichtigste Rede zur Feier der
Ausrufung der Verfassung hält. Sein Fokus und seine Kritik lagen aber
darauf, dass der Artikel 16, das Asylgesetz, faktisch abgeschafft worden
ist.
Das ist sicher auch eines unserer größten Probleme. Der sogenannte
Asyl-Kompromiss von 1993, der das Asylgesetz quasi direkt nach den
Anschlägen von Hoyerswerda faktisch außer Kraft setzte, ist eine der
Würdelosigkeiten in unserem Grundgesetz und muss zurückgenommen werden.
Als ich im Gorki den „Kirschgarten“ sah, die Eröffnungsinszenierung von
Nurkan Erpulat, da wurde mir bewusst, dass ich vorher immer nur weiße
Schauspieler auf Theaterbühnen gesehen hatte, und ich dachte: Warum ist das
nicht anderswo normal, dass ein Schwarzer die Hauptrolle spielt? Sie selbst
haben schon am Ballhaus Naunynstraße mit dem Konzept des „postmigrantischen
Theaters“ Furore gemacht. Führen Sie dieses Erbe jetzt fort, indem Sie mit
Ihrem Ensemble die Stadtgesellschaft abbilden? Oder die nationale
Gesellschaft?
Die Stadtgesellschaft! Was soll eine nationale Gesellschaft sein?
Ich meine nur, wollen Sie die gesamtdeutsche Gesellschaft abbilden, oder
konzentrieren Sie sich auf Berlin? Ich denke schon, dass es da einen
Unterschied gibt.
Stadt ist doch immer divers. Wenn sie nach Stuttgart oder Mannheim schauen,
was ja nicht die großen Metropolen sind, haben sie zum Teil noch höhere
Bevölkerungsanteile von „den Anderen“. Wir befinden uns auch in einem
europäischen Diskurs. Gerade jetzt nach der Europawahl. Das sind
Herausforderungen von Migrationsgesellschaften. Wenn wir Stadt sagen,
meinen wir doch heute auch die Translokalitäten einer Stadt.
Sie meinen die Wechselbeziehungen zu anderen Städten, das Kommen und Gehen.
Wenn wir über Berlin sprechen, sprechen wir doch in dieser Heterogenität
und Diversität über Tausende von Verbindungen in die ganze Welt, die wir
mitbringen, Konfliktzonen, die wir hier bearbeiten. Es gäbe nicht das Stück
„Common Ground“, wäre nicht eine der größten Communitys in Berlin die
serbokroatische. Wir könnten keine Projekte machen, in denen wir Deutsche,
Israelis und Palästinenser zusammen auf die Bühne bringen. Berlin ist die
Stadt, in der Konflikte ganz anders verhandelt werden können, mit sehr viel
weniger Ideologie, sehr viel weniger Vorgaben und Grenzen, die gegeben
sind, als wenn ich jetzt in der Türkei das Thema der Kurden oder in Israel
das Thema Palästina auf die Bühne bringen würde. Berlin ist schon eine
besondere Stadt, die sicher alle Reibungen, die man sich so vorstellen kann
heute, beinhaltet: Fragen von Ost/West, ökonomische Fragen,
Migrationsfragen, Genderfragen. Berlin scheint ein bisschen das zu sein,
was New York in den Siebzigern und Achtzigern war: eine Stadt, die sich
nicht nur durch klassische Migration und Ansiedlung verändert hat, sondern
auch durch Künstler, Kulturpraktiker, Denkende, Schreibende, Leute mit
queeren Lebensvorstellungen, die sich die Stadt als Lebensraum ausgesucht
haben. Hier kann ich schwul sein, hier kann ich Künstler sein…
Das war in den 90er Jahren so. Aber hat die Aufbruchstimmung nicht
mittlerweile einer enormen Zukunftsangst Platz gemacht? Dazu gehört doch
auch das, was im „Kirschgarten“ erzählt wird: die Lebensraumverdrängung. …
kommen fremde Leute und kaufen die Häuser, in denen wir groß geworden sind.
Kann man wirklich sein, wie man will, oder ist Berlin nur eine Station?
Das, was wir unter dem Begriff Gentrifizierung abkürzen, ist auch in New
York passiert in den 80ern. Das sind Prozesse, die das System, in dem wir
leben, mit sich bringt. Gentrifizierung ist aber nicht nur gemacht von
großen Immobilienkonzernen aus Dänemark oder USA, die großflächig aufkaufen
…
… oder China, wie im „Kirschgarten“…
Das Haus in Kreuzberg, in dem ich wohne, ist privatisiert worden, durchaus
mit dem Versuch von Mieterprivatisierung. Am Ende waren es ehemalige
Hausbesetzer, die den kompletten Block gekauft haben. Die haben gesagt,
dafür zu sorgen, dass möglichst viele von den Mietern selber kaufen können,
aber das waren dann maximal 20 Prozent. Der Rest meiner Nachbarschaft hat
sich fast komplett ausgetauscht während dieser zehn Jahre. Wir konnten nur
drin wohnen bleiben, weil wir uns die Miete leisten konnten, die immer
höher wurde. Diesen Prozess hatte ich bereits in Prenzlauer Berg erlebt: Es
gab plötzlich keine alten Leute mehr. Die drei Omas bei uns im Haus wurden
so verängstigt, dass die dann sofort die kleine Wohnung in Marzahn genommen
haben, die man ihnen angeboten hat. Es gibt keine gewachsenen Kieze, keine
Intergenerationalität, wobei ich die aber generell vermisse.
Sie sind in einem Dorf aufgewachsen.
Bei meinen Großeltern an der türkischen Ägäis, gegenüber der griechischen
Insel Lesbos, zwischen Troja und Pergamon. Die Intergenerationalität war
selbstverständlich dort. Es gab eine Tradition des oralen Erzählens, ein
Interesse für das, was vergangen ist, und einen großen Respekt dem Alter
gegenüber, eine Selbstverständlichkeit von Vielfalt. Meine Großeltern waren
Handwerker, meine Eltern wurden Beamte und gingen dann trotzdem in den
70ern als Gastarbeiter nach Deutschland. Ich selbst kam erst 1979 nach
Nürnberg zu meiner Mutter.
Dort wurden Sie später feministische Aktivistin und entdeckten das Theater.
Über den Arbeitertheaterverein gab es erste Berührungen mit dem Theater.
Richtig verliebt ins Theater habe ich mich, als ich meinen Mann
kennengelernt habe, 1994, der war damals Regieassistent an der Volksbühne.
Da hab ich die Arbeit der ganzen großen Regisseure erleben dürfen. Castorf,
Marthaler, Schlingensief. Dort habe ich Theater als Möglichkeitsraum
entdeckt, als politischen Raum erlebt. Matthias Lilienthal hat mich dann
ans Hebbel am Ufer geholt, und dann folgte eins aus dem anderen. Ich
initiiere gerne neue Projekte.
Was haben Sie eigentlich studiert?
Ich hab nichts studiert. Meine Mutter ging 1987 zurück in die Türkei, da
war ich 17. Ich musste bald mein eigenes Geld verdienen. Ich wollte
Verlegerin werden, um die Welt mit Büchern zu verändern, und machte eine
Ausbildung zur Verlagskauffrau. Nach dieser Ausbildung habe ich im gleichen
Verlag ein Volontariat angeschlossen und wurde Redakteurin. Ich war
Mitglied einer Kulturinitiative und habe unter anderem die Filmtage in
Nürnberg mitbegründet. Aus der Liebe zum Film erwuchs der Wunsch nach
Professionalisierung, und dann hatte ich das Glück, einen der wenigen
Ausbildungsplätzen in der Film- und Fernsehproduktion der ARD zu bekommen.
Ich bin eine Autodidaktin mit ausgeprägtem Halbwissen. Ich hab mich immer
in akademischen Kreisen bewegt. Um die Hegel- und Kant-Lektüre kam man als
Marxistin und Dialektikerin nicht herum. Bis heute ist es mir wichtig, mir
bestimmte Verbindungen, Hintergründe, Diskurse neu anzueignen.
Und warum sind Sie dann nach Berlin?
Der Liebe wegen. Ich dachte aber immer, ich muss hier leben.
Zurück zum Theater: Es gab ja auch den Vorwurf, dass Sie die Schauspieler
nur nach Herkunft auswählen würden. Stimmt das?
Um Gottes willen. Das ist sicher nicht die Grundlage für gutes Theater. Ich
handele nicht aus einer ethnischen Konzeption heraus oder beschränke mich
auf bestimmte Konzepte von Theater. Mein Ausgangspunkt, auch schon im
Ballhaus Naunynstraße mit weniger Ressourcen, ist Schauspieler-Theater. Das
Ensemble ist meinem Kointendanten Jens Hillje und mir das Wichtigste. Die
Schauspieler müssen ja die Ideen, Geschichten und Konzepte tragen, spielen,
vermitteln, dialogisieren und sich nehmen. Wir wollten mutige, starke
Persönlichkeiten als Schauspieler, die natürlich auch das Handwerk
beherrschen müssen und die darüber hinaus Lust haben, mit ihrer Biografie
und ihren Körpern umzugehen.
Überhaupt ist das Biografische der Schauspieler und Regisseure sehr präsent
in den meisten Inszenierungen. In „Soldaten“ etwa erzählt der Israeli
Michael Ronen von der unfreiwilligen Militärtradition seiner Familie.
Nimm Geschichte persönlich! Nimm Politik persönlich! Das ist einer unserer
Leitgedanken. Immer neugierig zu sein und zu fragen: Was hat das mit mir zu
tun? Gerade auch, wenn es kein direkter biografischer Stoff ist.
Das Gorki-Publikum ist einerseits sehr jung, andererseits sehr heterogen.
Es gibt englische Übertitel, viele ausländische Touristen, sowohl
Schulklassen als auch ältere Paare in den Inszenierungen. Das Gorki ist
wieder ein richtiges Publikumstheater geworden.
Das ist auch unser Eindruck, und wir wollen das noch intensivieren. Hier
laufen jeden Tag Tausende Touristen nur wenige Meter entfernt vorbei. Noch
haben wir nicht das klassische Mainstream-Touristen-Theater mit „Romeo und
Julia“ oder „Sommernachtstraum“. Aber wir haben viele aktuelle Stoffe, die
auch für andere Städte relevant sind, auch für hier in Berlin lebende
Nichtdeutschsprechende.
Sie haben die Bedeutung der Theaterpädagogik am Haus enorm gestärkt. Eine
zusätzliche Stelle wurde geschaffen, und die Theaterpädagogik hat jetzt
einen eigenen Raum im Haus. Warum ist die Theaterpädagogik so wichtig?
Wir begreifen Theaterpädagogik nicht nur als klassische Vermittlungsarbeit,
sondern als Grundlage kultureller Bildung schlechthin. Am Beginn der
Spielzeit laden wir Lehrer und Lehrerinnen ein, mit ihren Schulklassen in
unsere Inszenierungen und Workshops zu kommen. Wir stoßen momentan auf ein
enormes Interesse seitens der Schulen nicht nur für die klassischen
Schulstoffe, sondern gerade für die Stoffe, die explizit unsere
Gesellschaft verhandeln. Es ist ja ihre Realität.
Es gibt keine Stars am Gorki, sondern ein reines Ensembletheater.
Ja, wobei für mich jeder einzelne ein Stern ist. Mein Mann war ja
Regieassistent bei Castorf an der Volksbühne, was mich auch geprägt hat.
Dort habe ich gelernt, dass man Stars machen kann und nicht einkaufen muss.
Die Schauspieler exponieren sich dabei ja nicht nur auf der Bühne, sondern
machen sich auch voreinander innerlich nackig.
Deshalb ist eins der wenigen Prinzipien: Es darf keine Arschlöcher geben.
Man muss kein Arschloch sein, um gute Kunst zu machen.
Zum Spielplan: weder Shakespeare noch Schiller noch Goethe. Wo sind die
Klassiker?
Es ist ja nicht so, dass wir keine Klassiker machen. In der nächsten
Spielzeit kümmern wir uns zum Beispiel um die Nibelungen. Unser Profil sind
aber vor allem Gegenwartsstücke. Wir sind ein kleines Haus und können
deshalb auch zeitgenössischer sein. Aber wir lassen uns den 3.000 Jahre
alten Kanon auch nicht wegnehmen.
14 Jul 2014
## AUTOREN
Lea Streisand
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Theater ist zum Theater des Jahres gewählt worden.
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