# taz.de -- Die Wahrheit: Die beste aller möglichen Welten | |
> Kettenreaktionen im städtischen Raum können zu ganz und gar nicht | |
> absehbarer Komik führen. | |
Raimunds Grinsen war so breit wie die Elbe beim letzten | |
Jahrhunderthochwasser. Das bedeutete, ich hatte die Wette verloren und | |
schuldete ihm nun eine Riesenportion schwarze Sepianudeln alla Nonna Emilia | |
bei Antonio. „Unfassbar“, murmelte ich, während er die Straße überquerte | |
und wieder neben mir Platz nahm. | |
Wir saßen vor dem Café am Goetheplatz und hatten interessiert zum Brunnen | |
vor der Eulaliakirche hinübergeschaut. Der ist von einem schmiedeeisernen | |
Gitter eingefasst, und es war in Mode gekommen, dass Verliebte kleine bunte | |
Vorhängeschlösser an ihm anbrachten, in die sie ihre Namen hatten | |
eingravieren lassen. Vermutlich glaubten sie, mit dem Schloss am | |
Brunnengitter auch ihre Herzen für immer aneinanderzuketten. Weil die | |
Herzensverkettung in Nullkommanichts zum Massenphänomen geworden war, sah | |
man inzwischen das Gitter vor lauter Schlössern nicht mehr. | |
An diesem Morgen aber hatten wir beobachten können, dass ein Jüngling an | |
dem Gitter hängen geblieben war. „Jede Wette“, hatte Raimund gesagt, „da… | |
der mit dem Bügel des Schlosses versehentlich den eigenen Finger am Gitter | |
festgeklemmt hat.“ „Quatsch“, hatte ich erwidert, „so blöd kann niemand | |
sein!“ Keine fünf Minuten später, nachdem Raimund zum Brunnen hin- und | |
wieder zurückgeschlendert war, hatte ich diese Wette verloren. | |
Unterdessen waren zwei Feuerwehrmänner mit einem Bolzenschneider an den | |
Brunnen getreten, was allerdings den Burschen dazu veranlasste, noch mehr | |
zu zappeln, da er wohl befürchtete, die beiden Brandschutzleute könnten | |
statt des Schlosses den Finger zerknacken. Von diesem Spektakel nun war ein | |
Herr, der mit einem Rollköfferchen vom Bahnhof kam, so fasziniert, dass er | |
sein Köfferchen losließ und dieses, erst langsam, dann immer schneller, den | |
abschüssigen Platz hinunterrollerte. | |
Es rumpelte auf die Straße, wo ein Radfahrer mit einem riesigen Kopfhörer | |
auf den Ohren so lautstark „This is Not a Love Song“ von PiL mitsang, dass | |
er von dem ungewöhnlichen Verkehrsteilnehmer vollkommen überrascht wurde. | |
Er verriss den Lenker und rauschte ungebremst in die Wassermelonenpyramide, | |
die Ümit gerade vor seinem Supermarkt aufgeschichtet hatte. | |
Der Koffer rollerte weiter, gefolgt von den Melonen und Ümit, was wiederum | |
eine ängstliche ältere Dame dazu veranlasste: „Die Taliban greifen an!“ zu | |
kreischen und einen so spitzen Schrei auszustoßen, dass ein Dobermann vor | |
Schreck sein Herrchen umriss und in gestrecktem Galopp auf die Straße | |
schoss, worauf ein Straßenbahnfahrer sich zu einer Vollbremsung genötigt | |
sah und die Fahrgäste in der Bahn umfielen wie die Dominosteine. | |
„Junge, Junge“, murmelte ich. Und während wir zusahen, wie Rollkoffer, | |
Melonen, Ümit, Dobermann und das immer noch an der Leine hängende Herrchen | |
in die Adalbertstraße abbogen und neuen Abenteuern entgegensausten, seufzte | |
Raimund: „Besuchen Sie Deppenhausen und erfahren Sie die ganze Wahrheit | |
über die beste aller möglichen Welten!“ | |
22 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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Dummheit | |
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