# taz.de -- Die Wahrheit: Zur Dialektik des kahlen Schädels | |
> Die Geschichte des Mannes ist eine Geschichte des Kampfs gegen den | |
> Haarausfall. Und zwar schon seit der Zeit des Neandertalers. | |
Die Geschichte des Mannes ist eine Geschichte des Kampfs gegen den | |
Haarausfall. Wahrscheinlich kleisterte sich schon Herr Neandertaler in | |
seiner Verzweiflung Pterodactylusschmalz aufs kahle Haupt. Seitdem rührten | |
Legionen von Quacksalbern Tinkturen zur Wiederaufforstung des Schädeldachs | |
an und wurden reich damit: Kein Preis, der zu hoch, kein Versprechen, das | |
zu abenteuerlich gewesen wäre – wir Männer kauften jedes Produkt, das neu | |
auf den Markt kam, und schmierten es uns auf die Platte. | |
Ich konnte es daher gut verstehen, wenn Luis lamentierend an der Theke des | |
„Prokopop Z“ saß und zu viel Bier trank. Ein dichter Lockenurwald bedeckte | |
seinen Kopf, doch ausgerechnet er lebte mit einer Frau zusammen, die | |
vernarrt in Glatzen war. „Ich wollt, mein Liebster hätte / ne Plätte, ne | |
Plätte!“, summte Beate oftmals, strahlte ihn an und verstand überhaupt | |
nicht, dass er stehenden Fußes ins „Prokopop Z“ rannte und Vergessen | |
suchte. | |
„Mal ehrlich“, seufzte er, „sehe ich nicht schon ohne Glatze behämmert | |
genug aus? Schau dir meine riesigen Ohren an! Schon mein Opa hatte diese | |
Ohren, und diesen kugelrunden, globusgroßen Kopf: Hätte ich eine Glatze und | |
im Sommer mal wieder einen Sonnenbrand auf der kahlen Glomse, sähe ich aus | |
wie ein feuerrot leuchtender Heißluftballon mit Dumbo-Ohren!“ | |
Beate aber focht das nicht an. „Glaub mir“, säuselte sie, „mit Glatze w�… | |
du perfekt!“ Platten beherrschten ihre gesamte Heldengalerie. Ihr | |
Lieblingsheld in der Geschichte: Michail Gorbatschow. Ihr Lieblingsmaler: | |
Pablo Picasso. Ihr Lieblingsfußballschiedsrichter: Pierluigi Collina. Die | |
einzigen Ausnahmen in dieser Kahlkopftruppe waren George Clooney und Luis. | |
Aber auch die zwei hätte sie mit Glatze noch mehr geliebt. | |
„Muss ich nicht befürchten, dass sie eines Tages irgendeinem Kahlkopf, der | |
zufällig ihren Weg kreuzt, willenlos hinterherdackelt?“, fragte Luis, „in | |
den Bann gezogen von einer spiegelblanken, im Sonnenlicht glänzenden | |
Platte?“ | |
Bizarre Alpträume begannen ihn zu plagen: Mal wurden er und Beate aus einem | |
Kino geworfen, weil er eine Turmfrisur à la Marge Simpson besaß, die den | |
hinter ihm Sitzenden die Sicht versperrte, mal wurden sie am Betreten eines | |
Restaurants gehindert, da man befürchtete, dass seine Haare in die Suppen | |
der anderen Gäste segeln könnten – überall flogen sie raus, nirgendwo kamen | |
sie rein, und jedes Mal schaute Beate ihn vorwurfsvoll an. Auch sie trug | |
eine Glatze. Wie alle anderen Menschen. Er war ein Ausgestoßener. Er war | |
verzweifelt. | |
Dann aber kam der Sommer. Ich war bei Luis und Beate zum Grillen, und | |
plötzlich hörte ich sie kichern. Sie stand hinter Luis, fuhr mit den | |
Fingern durch seine Haare und sagte: „Du wirst licht!“ – „Was?!“, ent… | |
es ihm. „Du wirst licht!“, wiederholte sie, und Luis fing an zu grinsen. Er | |
sah sich als feuerroten Heißluftballon mit Dumboohren durch den Juli | |
spazieren und war der erste Mann der Menschheitsgeschichte, dem die | |
beginnende Schädelentlaubung wie eine Erlösung vorkam. | |
14 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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