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# taz.de -- Die Wahrheit: Liebeskranke Hypochonder
> Eingebildete Kranke, ein Arzt und eine Sprechstundenhilfe mit Augen so
> grün wie ein Ozean im Bermudadreieck des Gesundheitswesens.
Doc Prietsch musste uns für meschugge halten. Ständig konfrontierten wir
ihn mit den seltsamsten Beschwerden: Klagten wir anfangs über Kopfweh,
Schwindel oder „so ein Gluckern in den Nebenhöhlen“, mussten wir – um
überhaupt noch ein Gebrechen vorweisen zu können, das nicht schon in
unseren Krankenakten stand – ihm bald merkwürdige Symptome wie nächtliche
Ohrmuschelkrämpfe oder die Unfähigkeit, rote Speisen zu schlucken,
schildern.
Doc Prietsch indes war die Nachsicht in Person. Er hatte ein großes Herz
für harmlose Hypochonder, nickte verständnisvoll und gab uns eine Packung
mit bunten Vitamindrops aus seinem Musterschrank, die praktisch gegen alles
halfen. Nie reagierte er ungehalten und nie veranlassten ihn unsere
Molesten zu ärztlichem Übereifer. Wäre das anders gewesen, würde er
wahrscheinlich draußen in Ochsenforst in der psychiatrischen Klinik
praktizieren und nachmittags mit irgendeinem Napoleon oder Gandhi Bingo
oder Baccara spielen.
Vermutlich aber ahnte der Doc, dass uns in Wahrheit kein hypochondrischer
Spleen zu ihm trieb, sondern der Zauber zweier Augen, die so grün waren wie
der Indische Ozean und zu Frau Sparbier gehörten, die beim Doc in der
Anmeldung saß. Oft, wenn uns kein eingebildetes Leiden mehr einfiel, traten
wir einfach so vor ihren Tresen, fragten, ob wir beim letzten Mal unsere
blaue Lieblingsmütze im Wartezimmer liegen gelassen hätten, und waren
entschlossen, sie im nächsten Moment zum Essen einzuladen.
Kaum aber blickte sie uns aus ihren smaragdenen Augen an, stotterten wir
nur noch zusammenhangloses Zeug und bekamen einen so hochroten Kopf, dass
sie vorsichtshalber unseren Blutdruck maß. Und während sie die Manschette
anlegte und das Blut sich im Arm und im Schädel staute, überkam uns eine
leichte Ohnmacht.
## Gähnende Leere im Wartezimmer
##
Es war daher kein Wunder, dass nicht einer von uns, sondern ein smarter Typ
mit Gelfrisur sie erst zum Essen und dann zum Standesamt führte. Das
Schlimmste aber war, dass der Typ eine Galerie für volkstümliche
Avantgardekunst besaß und dass Frau Sparbier nicht mehr in der Anmeldung
des Docs sitzen, sondern abstrakte röhrende Hirsche verkaufen sollte.
Schlagartig herrschte gähnende Leere im Wartezimmer des Docs. Stattdessen
fläzten wir uns in der Avantgardegalerie auf skurril geformten Sesseln
herum und betrachteten neokubistische Alpenlandschaften. In diesem Laden
aber waren wir nicht willkommen. Oft hörten wir den Gelmann im Hinterzimmer
über Tagediebe schimpfen, die die solvente Kundschaft vertrieben, und man
brauchte nicht das Kombinationsvermögen eines Meisterdetektivs, um zu
erraten, dass er uns damit meinte.
Als schließlich auch der Doc mangels Patientenandrangs immer öfter auf den
unbequemen Sitzmöbeln hockte, war das Maß voll: Bei Nacht und Nebel
verschwand der Typ mit Hirschen, Sesseln und Gattin, und zurück blieb eine
Handvoll ratloser Taugenichtse, die stapelweise gefühlvolle Oden auf zwei
meeresgrüne Augen schrieben.
20 Jan 2015
## AUTOREN
Joachim Schulz
## TAGS
Krankheit
Nordsee
Ängste
Schädel
Geister
Revolution
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