# taz.de -- Spanischer Politologe und „Podemos“: Vom Faschisten zum radikal… | |
> Die USA lassen Jorge Verstrynge nicht mehr einreisen. Wie aus einem | |
> Rechten der Vater einer sozialen Bewegung wurde. Ein Portrait. | |
Bild: Madrid, 19. Juni 2014. Jorge Verstrynge im Griff der Polizei bei den Prot… | |
MADRID taz | „Ich war, politisch gesehen, wohl ein bisschen schizophren“, | |
sagt Jorge Verstrynge und lächelt. Ein kurzer Blick hinter ihn genügt, um | |
zu verstehen, was der 65-jährige Politikprofessor an der Universität | |
Complutense in Madrid meint. Im überfrachteten Bücherregal neben dem | |
Sessel, in dem es sich der hagere Weißhaarige gemütlich gemacht hat, stehen | |
politische Traktate – von Adolf Hitlers „Mein Kampf“, über Schriften | |
Charles de Gaulles bis zum „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx. | |
Das Wohnzimmer schmückt ein Bild des französischen Revolutionärs | |
Robespierre, das Schlafzimmer eine große rote Fahne aus den Zeiten der | |
UdSSR mit dem Konterfei Lenins. „Als Jugendlicher war ich Faschist, dann | |
Nationalbolschewist. Heute stehe ich der Protestbewegung Podemos nahe“, | |
resümiert Verstrynge seinen langen politischen Werdegang von ganz rechts | |
nach ganz links, den in Spanien viele kennen, aber nur wenige wirklich | |
verstehen. | |
Bekannt wurde Jorge Verstrynge als junger Erwachsener in den ersten Jahren | |
nach Ende der Franco-Diktatur. Er brachte es bis zum Generalsekretär der | |
Alianza Popular (AP), Vorgängerorganisation der heute in Spanien | |
regierenden konservativen Partido Popular. 1983 kandidierte Verstrynge | |
erfolglos für das Bürgermeisteramt in Madrid, war Parlamentsabgeordneter | |
der AP, bis er Anfang der 1990er Jahre zur sozialistischen PSOE wechselte. | |
Auch ihr drehte er bald den Rücken und wurde Berater des Generalsekretärs | |
der spanischen Kommunisten. | |
Heute steht er der linken Protestbewegung Podemos – „Wir können“ – nah… | |
Mit deren Gründern, einer Handvoll Universitätsprofessoren, teilt er | |
Fakultät und Hörsäle. „Parteichef Pablo Iglesias war mein brillantester | |
Schüler. Er ist so etwas wie ein Sohn für mich“, sagt Verstrynge stolz über | |
den jungen Politiker, dessen Partei Podemos Anfang des Jahres entstand und | |
bei den Europawahlen auf Anhieb 1,2 Millionen Stimmen (8 Prozent) holte und | |
seither in den Umfragen unaufhörlich zulegt. | |
## Ein Linker - ohne Anführungszeichen | |
„Wenn jemand nur einigermaßen bei Verstand ist, wird er in diesen Zeiten | |
immer wütender und immer linker“, erläutert Verstrynge, warum er sich heute | |
zu den „Linken ohne Anführungszeichen“, wie er das nennt, zählt. Die | |
soziale Frage sei schon immer so etwas wie „der rote Faden“ in seinem | |
bewegten politischen Leben gewesen. „Die Reichen verteidigen sich selbst, | |
die Armen können das nicht“, erklärt er, warum er die Nähe zu den | |
„Empörten“ suchte, die am 15. Mai 2011 in Madrid ihr Protestlager an der | |
zentralen Puerta del Sol errichtet hatten. | |
„Selbst in der Franco-Diktatur konnte man die Arbeiter nicht einfach so | |
entlassen und wurden Schuldner nicht einfach zwangsgeräumt wie heute“, sagt | |
er. „Es gab zwar brutale soziale Unterschiede, aber nicht wie jetzt, wo so | |
mancher das Tausendfache des Mindestlohns verdient.“ Natürlich habe er sich | |
nach links entwickelt. „Aber das Land ist nach rechts abgedriftet“, sagt | |
Verstrynge und wird leidenschaftlich, ja laut. Er vergleicht sich gerne mit | |
einem Geisterfahrer. Während sich alle rasend schnell nach rechts | |
entwickelten, habe er die Gegenrichtung eingeschlagen. | |
Seit jenem Mai 2011 ist Verstrynge unermüdlich gegen die Krisenpolitik und | |
ihre Folgen auf der Straße aktiv. „Neun Monate lang haben wir 2012 täglich | |
für dreißig Minuten die Kreuzung vor dem Krankenhaus blockiert“, berichtet | |
er über den erfolgreichen Bürgerprotest gegen Privatisierungen im | |
Gesundheitssystem, die im Rahmen der Sparpolitik geplant waren. Auch bei | |
Aktionen gegen die Zwangsräumung von Wohnungseigentümern, die ihre Kredite | |
nicht abzahlen können, macht er an der Seite seiner Frau mit. Verstrynge | |
war auch einer der Letzten, die von der Polizei aus einem besetzten | |
Sozialzentrum unweit seiner Wohnung geräumt wurden. | |
## Demonstrieren und Dozieren | |
Nicht nur die Presse, auch die Polizei nimmt sich gern seiner Person an. | |
Jüngst wurde Verstrynge verhaftet, als er trotz Demonstrationsverbot mit | |
ein paar hundert Menschen am Krönungstag von Felipe VI. auf der Madrider | |
Puerta del Sol für die Republik demonstrierte. Das Bild von dem | |
Weißhaarigen in Jeans und T-Shirt mit einem rot-gelb-purpurnen Aufdruck, | |
den Farben der Republik, der von Polizisten mit Helm und kugelsicherer | |
Weste umringt wird, verbreitete sich in Windeseile übers Netz. Noch diesen | |
Monat muss er deswegen vor den Richter. | |
Ein Gespräch mit Verstrynge gerät schnell zu einem politischen | |
Hochschulseminar. Spanien ist für ihn „parlamentarisch repräsentativ, aber | |
nicht demokratisch“. Demokratie gebe es nur, wenn das Volk per | |
Volksabstimmung entscheiden könne „und die Möglichkeit hat, die Inhaber | |
politischer Ämter per Referendum abzuwählen, wenn sie ihre Versprechen | |
nicht halten – wie in Venezuela“. Er schimpft auf Bankenrettung, Korruption | |
und die Monarchie, analysiert die europäische Wirtschaftspolitik, | |
philosophiert über die „Rückeroberung der monetären Souveränität im Euro… | |
des Euro“. Wenn er vom „Regime“ und von „den Herrschenden“ redet, ben… | |
er gerne den Ausdruck „Jauría“, zu Deutsch „die Meute“. Es ist eine �… | |
von Raubtieren, die die Schwachen verschlingen“, sagt er und verweist, egal | |
bei welchem Thema, immer wieder auf zeitgenössische französische | |
Politologen und Philosophen. | |
Dabei steckt er sich eine Gitanes nach der anderen an. Wenn sein Handy | |
klingelt, ertönt die französische Nationalhymne, die Marseillaise. Oft sind | |
es Studenten, die irgendein Problem mit einer Hausarbeit oder den | |
bevorstehenden Prüfungen haben. | |
## Herkunft Nordafrika | |
Sein ungewöhnlicher politischer Weg sei „familiär angelegt“, analysiert | |
Verstrynge den eigenen Werdegang. Geboren 1948 im marokkanischen Tanger als | |
Sohn einer französisch-spanischen Familie, lebte er in Rabat und Oran. Sein | |
belgischstämmiger Vater war Faschist und wie Sohn Jorge Anhänger der OAS, | |
der französischen Untergrundarmee, die im Algerienkrieg gegen die Regierung | |
in Paris für den Verbleib des Landes in europäischer Hand kämpfte. Nach der | |
Trennung seiner Eltern heiratete die Mutter bald erneut, einen | |
französischen Kommunisten, der in einer Baufirma als Projektleiter | |
arbeitete. „Das ist mein eigentlicher Vater“, sagt Verstrynge und zeigt auf | |
ein altes Foto eines bärtigen Mannes, der mit Robespierre im Bilderrahmen | |
steckt. „Ich war 12. Seine Ideen standen meinen diametral entgegen“, | |
erinnert sich Verstrynge an seine Kindheit. | |
Der neue Vater, der von Frankreich nach Marokko verbannt worden war, | |
unterstützte die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien. Und er war für | |
eine sozialistische Gesellschaftsordnung. „Hier begann die Dualität: | |
Politisch war ich weiterhin dafür, dass das französische Kolonialreich | |
bestehenbleibt; gleichzeitig fing ich an, zu denken, dass die Banken, die | |
Versicherungen und große Infrastrukturen verstaatlicht werden müssen. | |
Letzteres glaube ich bis heute“, sagt er und fügt nach einer kurzen Pause | |
hinzu: „In Sachen Unabhängigkeit brauchten wir lange, bis wir merkten, dass | |
der Alte recht hatte.“ Heute bewundert Verstrynge den französischen | |
Expräsidenten Charles de Gaulle als „einen großen Staatsmann“. | |
Auch die Familie Verstrynge musste gehen. Der junge Jorge, der Spanisch mit | |
französischen Akzent sprach, kam nach Madrid. Er erinnert sich „vor allem | |
an die Ruhe, die Sicherheit“. Das beeindruckte den Heranwachsenden, der im | |
algerischen Oran miterleben musste, wie seine Familie und ihre | |
französischen Nachbarn Zettel mit der Aufschrift „Koffer oder Sarg“ fanden. | |
„Natürlich hatte die Sicherheit in Spanien einen Preis: Du musstest den | |
Mund halten.“ | |
## Karriere als Generalsekretär | |
Verstrynges Weg in die Politik begann an der Universität. Es war nicht die | |
Linke, die es im antat, sondern sein Professor Manuel Fraga. Im einstigen | |
Informationsminister Francos und ersten Innenminister nach dem Tod des | |
Diktators im Jahr 1975 sah der junge Verstrynge einen Reformer – „eine Art | |
spanischen de Gaulle“. „Ich hatte mich getäuscht“, weiß er heute. | |
Verstrynge wurde Generalsekretär in Fragas Alianza Popular. Es ist jene | |
Zeit, die ihm bis heute manche nachtragen. „Ich hatte die Aufgabe, radikale | |
Erklärungen abzugeben, wenn Fraga politisch vorsichtig sein wollte“, sagt | |
Verstrynge und lächelt dabei. | |
Es war ausgerechnet eines dieser öffentlichen Statements, die zum Bruch mit | |
Fraga und der AP führten. „Ich habe die Bombardierung von Tripolis 1986 | |
durch die USA verurteilt“, erinnert sich Verstrynge. Die Kommunisten lobten | |
ihn, Fraga war empört. Es war der Beginn einer Reihe von | |
Meinungsverschiedenheiten, die schließlich zum Bruch führten. „Ich bin in | |
Nordafrika geboren. Was hat er von mir erwartet?“, fragt Verstrynge. | |
Auch der Austritt aus der sozialistischen PSOE, in der er seine neue | |
politische Heimat fand, erfolgte nach einem Militäreinsatz. Verstrynge | |
verurteilte den Angriff der USA und der Nato auf Serbien und verließ auch | |
diese Partei. „Die Kommunisten haben um mich geworben“, erinnert er sich, | |
aber er habe abgelehnt. „Ich halte nichts von Religion, auch nicht von | |
einer weltlichen“, lautete seine Begründung. | |
## Parteienüberdruss | |
Fortan hielt er sich von allein Parteien fern und ging zurück an die | |
Universität. Sein Werk „Der periphere Krieg und der revolutionäre Islam“ | |
über den asymmetrischen Krieg sollte zum Bestseller werden; nicht in | |
Spanien, sondern in Venezuela. Hugo Chávez ließ 30.000 Exemplare drucken | |
und an die Soldaten seines Landes verteilen. „Das bescherte mir ein | |
Einreiseverbot in die USA“, sagt Verstrynge. Es stört ihn nicht weiter, da | |
ihm die USA mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten eh unsympathisch sind. | |
Trotz seiner Nähe zu der neu gegründeten Podemos-Partei strebt Verstrynge | |
kein politisches Amt mehr an. Dies sei Aufgabe einer neuen, jungen | |
Generation. „Berater oder Mitglied einer Studiengruppe für | |
Wirtschaftspolitik“ könne er sich vorstellen. Mehr nicht. Verstrynge weiß, | |
dass er mit seiner Vergangenheit für viele ein schwer zu verdauender | |
Brocken ist. Er will dem Projekt von Podemos-Chef Pablo Iglesias nicht | |
schaden. | |
„Ich hoffe, er erreicht, was mit nicht geglückt ist“, sagt er im Ton eines | |
gütigen Vaters. „Meine Generation ist ein Desaster. Alles, was wir gemacht | |
haben, ist ein Desaster. Spanien sollte ein sozialer Rechtsstaat werden und | |
ist heute alles andere als das.“ | |
30 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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