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# taz.de -- Die Wahrheit: Hinkend, aber glücklich
> Mit Amputationsschinken soll Fleischverzehr auch für Veganer ethisch
> unbedenklich werden, doch in der Szene ist der Trend umstritten.
Bild: Schinken-OP: Medizinische Hilfe oder trojanisches Pferd der Fleischlobby?
„Schinken essen heißt Leben retten“ steht auf dem Transparent im
traditionsreichen Göttinger Naturkostladen Ranunkel. Vor der neu
aufgestellten Fleischtheke drängen sich Veganer und Vegetarier und schlagen
ihre Zähne in gerade erstandene Haxen, die aber nicht etwa aus pflanzlichen
Zutaten nachgebaut wurden, sondern aus echtem Fleisch bestehen:
Veterinärmedizinisch indizierter Amputationsschinken ist ein neuer Trend
für tierethisch bewusste Genießer.
Noch nie war die Nachfrage nach Fleisch so groß wie heute, und noch nie
waren die Masttechniken so ausgeklügelt. Das Schwein, das friedlich im
Schlamm steht und Kartoffelschalen frisst, ist längst Geschichte. Auf dem
Menüplan von Nutztieren steht heute vor allem Glucose-Fructose-Sirup. Doch
die flüssige Kalorienbombe hat Nachteile. Der Zucker, der im konzentrierten
Maissirup nicht mehr an Ballaststoffe gebunden ist und in Form von Fructose
insulinunabhängig verstoffwechselt wird, führt zwar zu einer schnellen
Gewichtszunahme bei den Masttieren, fördert aber massiv Diabetes vom Typ 2.
Die schmerzleitenden Nervenfasern in den Beinen der erkrankten Tiere werden
geschädigt, und es kommt vor, dass ihre Füße zwischen den Stangen im
Käfigboden zu faulen beginnen. Eine junge Frau hat beschlossen, das Problem
bei den Hufen zu packen – und dabei den unwahrscheinlichsten Foodtrend seit
der Molekularküche ausgelöst.
Gesa Schäfer ist 34, hat Tiermedizin in München und Beirut studiert und
lebt seit vielen Jahren vegan. Sie verzichtet also auf alle Produkte, für
deren Herstellung Tiere zu Schaden kommen. Bisher nahm sie natürlich auch
kein Fleisch zu sich. Bis sie von den unhaltbaren Zuständen in der
Schweinemast erfuhr. Seither klappert die Medizinerin mit einem mobilen
Operationszelt aus Bundeswehrbeständen und einem Kühltransporter die
agrarindustriellen Zentren der deutschen Provinz nach Patienten ab.
„Wenn das Tier verendet und unverzehrt in der Kadaversammelstelle landet,
fällt die Klimabilanz noch desaströser aus“, erklärt die Fachfrau ihren
Sinneswandel. „Jedes Tier, das amputiert überlebt, ist für uns ein
Etappensieg. Mit dem Geld, das ich an den Schinken verdiene, kann ich
weitere saubere Operationen gewährleisten. Entsprechend ist der Verzehr von
Amputationsfleisch gelebte Solidarität mit der geschundenen Kreatur.
## „Nur über meine Leiche“
Das Amputieren selbst ist routinierte Akkordarbeit, rund 8 Euro bekommt
Gesa Schäfer für das verkaufte Kilo Biotier, bei strikt konventionell
gehaltenen Schweinen sind es immerhin noch 3 Euro. An den Operationen
selbst verdient sie nicht viel, behauptet sie.
Der wahre Batzen liege im Verkauf. Die Fleischveredler, zu denen die
amputierten Schinken meist weiterverfrachtet werden, wiederum freuen sich
über die lupenreine Argumentation, die erstmals auch eingefleischten
Veganern ihre Produkte schmackhaft macht.
„Oftmals ist bei den erkrankten Tieren zwar nur der Vorfuß betroffen, wir
amputieren dann aber meist vorsorglich den ganzen Lauf. Außerdem ist die
Nuss am leckersten“, erklärt Schäfer, die deutschlandweit als Koryphäe für
diabetesbedingte Amputationen bei Haus- und Nutztieren gilt. Die
pragmatische Idealistin weiß aber auch um die wirtschaftlichen Vorteile,
die frühzeitige Amputationen bei zarten Jungtieren mit sich bringen. Der
Markt für tierfreundliche und vegane Lebensmittel boomt nicht nur in
Hamburg und Berlin, in allen europäischen Großstädten ist die Ware heiß
begehrt – veganes Fleisch ist eben eine echte Alternative zu Tofu und
Quorn.
„Nachdem es in jedem Supermarkt vegane Produkte gibt, war es nur eine Frage
der Zeit, bis die Fleischlobby ein Hintertürchen zu dieser
Konsumentengruppe sucht“, kritisiert Expertin Wiebke Pohlmann, die Schäfer
ironisch als „heilige Johanna der Schlachthöfe“ und hinter vorgehaltener
Hand als „nützliche Idiotin der Schweinebarone“ bezeichnet. Im Gegenzug hat
Schäfer die vegane Foodbloggerin als „Mörderin“ beschimpft und wegen
unterlassener Hilfeleistung am Schwein angezeigt. Angewidert betrachtet
Wiebke Pohlmann den Oldenburger Saftschinken, der laut Etikett „tierethisch
unbedenklich“ und damit „vegan“ sein soll. „Nur über meine Leiche“, …
sie und übergibt sich. Vegan sei kein geschützter Begriff, argumentiert
Schäfer dagegen. Da mit dem „Glücksschinken“ Tierleben immerhin
vorübergehend gerettet würden, hat die selbst ernannte Schweineflüsterin
kein Problem damit, das Fleisch als „veganes Produkt“ zu verkaufen.
Im Ranunkel sieht man das ganz ähnlich und will seinerseits in die vegane
Schinkenstraße zum Erfolg einbiegen. Gerade hat Besitzer Bernd Bollinger
ein ganzes Kollektiv erfahrener osteuropäischer Veterinärchirurgen
verdingt, die Amputationen am Fließband zu einem Viertel des Preises
durchführen. Die Vermarktung soll ein Discounter übernehmen.
30 Jul 2014
## AUTOREN
Hazel Brugger
## TAGS
Veganismus
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Ferkel
Fleischkonsum
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