# taz.de -- Wahrnehmung invasiver Arten: Der ungeliebte Streuner | |
> Auf Bärenjagd: Unser Autor bekommt einen Journalisten-Preis, weil er ein | |
> großer Entdecker ist. Hier beobachtet er eine Invasion. | |
Bild: Invasiv hin oder her – süß ist der Waschbär. | |
Mindestens seitdem der Strom der „Wirtschaftsflüchtlinge“ (wie man früher | |
die „Refugees“ nannte) nach Lampedusa einsetzte, hat sich der Streit, ob | |
Deutschland ein „Einwanderungsland“ ist oder sein sollte, auf Tiere und | |
Pflanzen ausgedehnt, wenn nicht gar verlagert. Kaum ein Tag, an dem nicht | |
irgendein Massenmedium mit neuen „Erkenntnissen“ über „invasive Arten“ | |
aufwartet. | |
Der TV-Sender Arte schickte mir neulich unaufgefordert seinen Film | |
„Invasion der Pflanzen – Gefahr für Umwelt und Mensch“ zu. Das Neue | |
Deutschland veröffentlichte eine Zusammenfassung der Debatte über tierische | |
und pflanzliche Ausländer: „Die Mehrheit der Wissenschaftler ist dabei | |
einer Meinung: Invasive Arten sind in der Summe als kritisch für das | |
Ökosystem anzusehen.“ Dazu scheint für den ND-Autor auch die Menschenwelt | |
zu zählen – ja, vor allem sie, denn als Beispiele erwähnt er einige | |
ausländische Pflanzen, die sich hier, einmal eingeschleppt, unglaublich | |
vermehren – und „Allergien, Hautausschläge“ et cetera hervorrufen. Es gi… | |
inzwischen ganze Sondereinheiten – auf Basis von 1-Euro-Jobs, die in | |
Schutzanzügen ausrücken und sie ausrotten. Die gleichen, für Menschen | |
unangenehmen Pflanzen sind jedoch unter den Bienen äußerst beliebt, | |
weswegen sie zum Beispiel von den Imkern geschätzt werden, die | |
protestieren. | |
Unter den Tieren werden etwa die aus Amerika importierten und ab 1929 in | |
Westdeutschland ausgewilderten beziehungsweise 1945 aus einer zerbombten | |
Zuchtfarm in Ostdeutschland entkommenen Waschbären erwähnt: „Sie dezimieren | |
die hier heimische Vogel- und Amphibienwelt.“ Ihnen treten die Jäger | |
entgegen, indem sie regelmäßig eine sogenannte Bestandsregulierung | |
vornehmen. Der Waschbär darf hierzulande ganzjährig gejagt werden. | |
Allerdings muss man jedes tote Tier amtlich registrieren lassen. 2013 | |
wurden allein in Berlin und Brandenburg 20.300 Waschbären „erlegt“. Das | |
Brandenburger Agrarministerium bilanzierte dies als eine Art | |
Wirtschaftserfolg: „In nur vier Jahren verdoppelte sich die Strecke.“ | |
Gemeint ist in diesem Jägerdeutsch die Zahl der erlegten Tiere, die nach | |
dem Halali auf den Müll kommen, denn wer will heute noch mit so einer | |
albernen Waschbärenmütze mit Schwanz oder gar mit einem ganzen | |
Waschbärmantel herumlaufen? | |
Ersteres trugen nach dem Krieg die verhinderten Trapper, Letzteres die | |
ungehinderten Zuhälter. | |
Auch in den anderen Bundesländern mussten 2013 Zigtausende von Waschbären | |
dran glauben. Dennoch warnte eine Schweizer Zeitung: „Waschbär ist auf dem | |
Vormarsch Richtung Südostschweiz“. Die FAZ titelte: „Die Rasselbande | |
zerstört alles“, der Spiegel: „Randale unterm Dach“, und die Welt: | |
„Terror-Waschbären richten immense Schäden an“. Die Zeit lobte gar die | |
unsere Wälder von diesem Schädling befreienden Jäger als | |
verantwortungsvolle Ökologen – mit der Überschrift: „Von wegen Spaß am | |
Tiere-Töten.“ Im Merkur priesen sich daraufhin die Jäger selbst so an: „W… | |
sind Naturschützer“. | |
## Brandenburgische Blutbader | |
Darüber hinaus finden sich im Internet mittlerweile Hunderte von Seiten | |
über zumeist technische „Schutz- und Abwehrmaßnahmen“, sodass selbst | |
Nichtbewaffnete gegen die Waschbären aktiv werden können. Daneben findet | |
man aber auch anrührende Feuilletons, zum Beispiel von Rentnern, bei denen | |
eine Waschbärfamilie auf dem Dachboden oder im Kamin lebt. Der | |
„Anti-Jagdblog“ gibt unter der Überschrift „Jäger erlegen so viele | |
Waschbären wie nie zuvor“ zu bedenken, dass noch einmal so viele | |
alljährlich überfahren werden. | |
Die Tierschützerin Marianne schreibt: „Ja, dieses Brandenburg ist | |
landschaftlich schön, nur leider ist es das Land mit der größten Dichte an | |
Mördertürmen, Fallen, Kirrstellen, Ansitzen und Mörderpack. Am Rande von | |
Berlin und Potsdam sind die Wälder gespickt mit Blutbadern [Jägern] und | |
trotzigen Bauwerken, die den Wildtieren den Garaus machen. Der Minister ist | |
selbst Blutbader und Befürworter der Massentierhaltung. Leider sind die | |
Brandenburger nicht sehr aufgeklärt, aber zum Glück werden die Jagdgegner | |
immer mehr.“ | |
Neben den Jägern sind es vor allem die Singvogelfreunde und Besitzer von | |
Obstbaumgärten, die etwas gegen Waschbären haben. | |
Bei den Waschbärenforschern verhält es sich hingegen so wie bei allen | |
Erforschern von Tierarten: Sie sind von ihren im Grunde harmlosen und | |
ebenso rührenden wie klugen Untersuchungsobjekten derart eingenommen, dass | |
sie sich mit der Zeit geradezu zu ihren Sprechern, Waschbärensprechern, | |
aufschwingen. | |
## Diplomwaschbärenmamas | |
Dies gilt zum Beispiel für den Biologen Ulf Hohmann und den Tierfotografen | |
Ingo Bartussek. Für ihren Forschungsbericht „Der Waschbär“ (2011) | |
beobachteten sie im Sollinger Forst bei Höxter jahrelang den nachtaktiven, | |
gerne auf großen Eichen lebenden Kleinbären mit ihren Nachtsichtgeräten. | |
Die Göttinger Forscher fingen welche in Fallen und statteten sie mit | |
Sendern aus oder ließen sie von Diplomstudentinnen großziehen, damit sie | |
das Verhalten dieser zahm gewordenen Tiere später auch noch in Freiheit | |
bequem, quasi von Nahem, studieren konnten. Diese Mischung aus Zoo- und | |
Feldforschung wandte bereits Konrad Lorenz erfolgreich bei Graugänsen an, | |
von denen eine, Martina, es sogar zur Berühmtheit brachte. | |
Im Internet werden heute jede Menge Waschbären angeboten: „albino, blonde, | |
elfenbeinfarbene und naturfarbene“. Auf einer Internetseite fand ich den | |
Hinweis: „Zuerst sollten Sie genau wissen, was Sie sich holen, wenn Sie | |
einen Waschbär kaufen. Wussten Sie, dass ein Waschbär Ihr Anwesen zerstören | |
kann, wenn Sie ihn nicht richtig pflegen? Zum Beispiel ist es bekannt, dass | |
Waschbären Kabeldrähte ausgraben. Außerdem sind sie kaum zu zähmen …“ | |
Auch die Waschbärenliebhaber Hohmann und Bartussek sagen: „Der Waschbär ist | |
kein Haustier und wird es nie werden. Daran ändern auch die Beteuerungen so | |
mancher Tierhändler nichts.“ Im letzten Kapitel ihres Buches geben sie dann | |
aber doch „Tipps und Tricks zu Aufzucht und Haltung von Waschbären“ – und | |
fragen sich sogar: „Doch als Haustier?“ Dazu heißt es: „Wenn man sich | |
entschlossen hat, Waschbären im Haus zu halten, muss bedacht werden, dass | |
wir für unseren Pflegling fortan seine ’Waschbärgruppe‘ sind.“ Und das | |
bedeutet unter anderem, dass wir als „Sparringpartner“ für seine wilden | |
Beiß- und Kratzspiele herhalten müssen, dafür sind wir Menschen aber zu | |
dünnhäutig: „Nur ein robuster, im Haus lebender Hund kann diese Aufgabe | |
übernehmen.“ | |
Mit dem Kauf eines Waschbären sollte man sich also am besten auch noch | |
gleich einen großen Hund anschaffen. | |
Am Stadtrand von Berlin sehen viele Bewohner rot, wenn sie einen Waschbären | |
in ihrem Garten erblicken. Sofort rufen sie einen Jäger an, der ihnen das | |
Tier mit einer Falle wegfängt – und umbringt. In meiner Familie hatten wir | |
immer viele Tiere, dabei wurde kein großer Unterschied zwischen Mensch und | |
Tier gemacht. Heute würde ich auch die Pflanzen da miteinbeziehen, der | |
Vegetarismus ist also keine Option für mich. | |
## Tastsinn, statt Denkerstirn | |
Beim Waschbären würde ich auch erst mal – wie die beiden Waschbärenforscher | |
– eine „Inklusion“ ins Auge fassen, wobei mir bewusst wäre, dass Waschb�… | |
nicht gleich Waschbär ist. Das Prinzip „Kennst du einen, kennst du alle“ | |
gilt gerade bei Waschbären nicht: Jeder ist auf eine andere Art gewaschen. | |
Und im Übrigen waschen sie ihre Nahrung gar nicht vorm Verspeisen, sondern | |
suchen gerne unter Wasser nach Essbarem. Kleinen Krebsen zum Beispiel. Dazu | |
haben sie hypersensible Vorderpfoten: „Der Tastsinn ist die unumstrittene | |
Geheimwaffe des Waschbären“, schreiben Hohmann/Bartussek, „kein anderes | |
Tier reserviert sich für die Interpretation der taktilen Reizimpulse aus | |
den Handflächen so viel Hirnmasse wie der Waschbär.“ Mit der Folge: Wenn | |
Waschbären im Wasser herumtasten, „blicken sie ins Leere und wirken dabei | |
merkwürdig abwesend“. | |
Neben ihrem Tastsinn ist aber auch ihr Geruchssinn „ausgezeichnet“: zwei | |
Sinne, die Menschen eher vernachlässigen – seit einigen Zigtausend Jahren | |
schon. Ein Waschbär wäre in dieser Hinsicht also eine sinn-volle Ergänzung | |
zu uns. Das wollte ich hier nur mal zu bedenken geben – an die Adresse der | |
Waschbärenverächter. | |
1 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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