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# taz.de -- Israel unter Raketenbeschuss: Ständig ist irgendwo Alarm
> Eine alte Dame lädt zum Kaffee, das Fernsehen zeigt Friedensdemos,
> bärtige Männer tanzen Techno. Eindrücke von einer Seite des Krieges.
Bild: Kinder im Luftschutzraum: Auch Teile, die runterfallen, können tödlich …
ISRAEL taz | Vierzig Schekel seien ein guter Preis, sagt der
Parkplatzwächter, von heute Nachmittag bis morgen Mittag kriege man
nirgends einen besseren. Schön, dann machen wir das so. Der Parkplatz ist
fast leer, in der Stadt ist es zu ruhig für einen Wochentag. Ich überlege,
ob ich das iPad unter die Fußmatte schieben soll. Eine Sirene geht los, das
ist wohl der Luftalarm. Soll ich was mitnehmen? Alles liegen lassen?
Schnell das Auto abschließen und einen sicheren Ort suchen?
Auf dem Parkplatz gibt es nichts zum Unterstellen. Die Raketen kommen aus
dem Süden, denke ich. Dann macht es bumm. Ich sehe ein paar Männer auf der
Straße stehen und in den Himmel deuten. Ich gehe los und stelle mich im
Eingangsbereich eines Hauses unter. Eine Frau sagt: „You have to stay here
for a few minutes.“ Die Eiserne Kuppel, das israelische Abwehrsystem,
schießt zwar die meisten Raketen der Hamas aus dem Himmel der Stadt. Aber
die Teile, die danach herunterfallen, sind nicht minder tödlich.
Das erste neue Wort, das ich lerne, heißt „Raketot“, auf Hebräisch die
Mehrzahl von Rakete. Ihr erstes Opfer ist ein Beduine namens Odeh Lafia
al-Waj.
In Berlin habe ich meiner Tochter erklärt, dass es wahrscheinlicher ist,
einen Autounfall zu haben, als von einer Rakete getroffen zu werden. Das
Kleingedruckte habe ich verschwiegen: Auch wenn die Wahrscheinlichkeit
eines Ereignisses eins zu eine Million ist, ist nichts darüber gesagt, wann
es eintrifft.
## Alarm im Radio, Alarm im Fernsehen
Das zweite neue Wort, das ich lerne, ist „Asaka“, Alarm. Wenn man im Auto
unterwegs ist, unterbricht hin und wieder eine Stimme das Radioprogramm:
„Alarm in Beer Scheva. Alarm in Aschdod.“ Im Fernsehen wird der Alarm in
orangefarbenen Kästchen rechts oben eingeblendet. Ständig ist irgendwo
Alarm.
Nach ein paar Tagen gibt es das erste Mal Alarm in unserem Kibbuz. Der
erste Schutzraum ist verschlossen. Der zweite ist uralt und mit Brettern
vernagelt. Es kommen vier Frauen, sie sprechen Deutsch. „Hier ist zu“, sage
ich, „aber kommen Sie doch zu uns unters Vordach.“ Lies, mit Gehhilfe
unterwegs, ist 97 und vor langer Zeit nach Haifa ausgewandert. Die Damen
laden mich zum Kaffee ein. Dina erklärt, welche Wurzel das Wort „Hafsaka“
hat. „Hafsaka“ heißt Unterbrechung. Egal, wo man dieser Tage geht oder
steht, ständig reden die Leute über „Hafsakat Esch“. Es ist das dritte ne…
Wort, das ich lerne: „Waffenstillstand“.
Die Kinder des Ferienprogramms im Kibbuz sind gemeinsam in einen Schutzraum
gegangen. Die Kinder, die zu Besuch sind, haben nicht geweint, erzählt die
Lehrerin. Die Kinder aus dem Kibbuz schon. Für die einen ist der Krieg
immer woanders, für die anderen ist der Krieg immer vor der Haustür.
Ein paar Tage später in Tel Aviv. Ich bin eben aufgestanden, da
registrieren meine Ohren eine Sirene, die nach Krankenwagen klingt. Dreißig
Sekunden später gibt es einen lauten Knall. Ich trete auf den Balkon und
sehe am Himmel kleine weiße Rauchwolken. Die Behörden haben den
Sirenenklang der Ambulanzen austauschen lassen, er war dem Luftalarm zu
ähnlich. Es gibt noch einen Knall, lauter als eben. Die Fensterscheiben
wackeln.
## Rechte Hooligans attackieren Friedensdemo
Das Theaterfestival in Jerusalem wird abgesagt. Die Organisatoren glauben,
dass friedliches Zusammenleben auch in dieser mit konkurrierenden Mythen
und Ansprüchen aufgeladenen Stadt möglich ist. Ich bekomme eine Mail von
Tamar, der Pressesprecherin: „Wir glauben, dass Kunst und Kultur im Denken
und in der Wirklichkeit etwas verändern können. Aber wir empfinden es als
falsch, weiterzumachen, als sei nichts passiert.“
Anderntags zeigt das Fernsehen Szenen von einer Friedensdemo in Tel Aviv.
Rechte Hooligans attackieren die Demonstranten mit Fußtritten, die Polizei
greift nur halbherzig ein. „Faschismus!“, ruft Schaul vom Sofa. Später
erzählt Avner, ein Journalistenkollege, dass es auch bei dieser Demo Alarm
gab. Beim ersten suchten linke und rechte Demonstranten in denselben
Restaurants Schutz. Der zweite Alarm beendete die Demo.
Ein paar Tage später findet die erste große Friedensdemonstration auf dem
Rabin-Platz in Tel Aviv statt, an der 7.000 Menschen teilnehmen. Unter den
Rednern Assaf Yaakobovich, Hauptmann der israelischen Armee im Ruhestand,
und Salim Tahib aus Ramallah. Gemeinsam fordern sie von den Kriegsparteien
die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen.
Ein Abend im Zimmer. Das Zimmer befindet sich im armen, heruntergekommenen
Süden von Tel Aviv. Der kleine, von einer Gruppe Freiwilliger organisierte
Ort hat weder Schanklizenz noch Gewerbegenehmigung, wird aber von den
Behörden geduldet. Nirgends sind Bier und Arak so billig, mehrmals in der
Woche treten junge Künstler auf. Ron erklärt, warum sie trotz des Kriegs
weiterarbeiten: „Die Leute sollen die Möglichkeit haben, etwas Positives zu
machen und zu erfahren.“
## Inferno aus Beats und Sirenensounds
Heute spielen Mechonat Hereg, auf Englisch Killing Machine, krassen Techno.
Ein bärtiger Mann bedient ein Laptop. Ein zweiter in alten Jeans und
Stiefeln tanzt ekstatisch und brüllt in ein Mikro. Unterstützt wird er von
einer zierlichen Frau mit einer sehr hohen Stimme, die hektisch auf und ab
marschiert. Die englischen Texte bestehen aus Slogans wie „Let’s all get
fucked up“.
Ein Freund der Band trägt ein T-Shirt, auf dem vorne auf Hebräisch und
hinten auf Englisch „Stolz, ein Verräter zu sein“ steht. Dann hält der
Sänger, der so aussieht, wie man sich einen jüdischen Propheten vorstellt,
über dem Inferno aus Beats und Sirenensounds auf Hebräisch eine Predigt. Er
fordert das Volk auf, sich gegen die Anmaßungen seiner Herrscher zu wehren.
Nach dem Konzert spreche ich mit Yam, der Sängerin. Da kommt eine wegen
ihrer Barthaare sehr männliche wirkende Frau im Kimono zu uns. Sie erzählt
von der Friedensdemo der Künstler. „Die Polizei hat jeden gefragt: Bist du
rechts oder links? Dann wurden die Leute hinter die eine oder die andere
Absperrung gebracht. Ich habe gesagt, ich bin Anarchist.“ Es ist neu für
die Linke, hinter Absperrungen demonstrieren zu müssen.
Yam sagt, sie habe heute gar nicht auftreten wollen. „Ich mache mir Sorgen
um meinen Neffen, der in Gaza ist.“ In jeder Familie gibt es einen jungen
Mann, der in Gaza ist. Ständig sterben Menschen, hier wie dort. Auch im
Zimmer herrscht trotz aller Gelassenheit eine depressive Stimmung. Man
sorgt sich um die Zukunft und hofft, dass dieser Krieg bald vorbei ist.
Aggressive Leute sehe ich im Fernsehen. „Tod den Arabern!“, schreit ein
Mann aus einer tobenden Menge heraus. Noch nie waren die Spannungen im Land
so groß.
Im Alltag scheinen aber alle zivilisiert miteinander umzugehen, vielleicht
besonders, wenn moderate jüdische und arabische Israelis
aufeinandertreffen. Zum Krieg kann man kontroverse Ansichten haben. Das hat
jedoch nicht zwingend etwas zu bedeuten, wenn an der Tankstelle ein
religiöser Jude seine Rechnung bei einem jungen Muslim bezahlt.
Morgens im Kibbuz, ich spüle das Geschirr ab und höre Deutschlandfunk im
Livestream. Man diskutiert über Antisemitismus, ein Hörer wird live
geschaltet. Er erklärt in der Diktion eines Manns mit Durchblick, was
falsch läuft. Schuld an den Raketen aus Gaza habe Israel wegen der
Besatzung. Ein deutsche Familie sei gestern in Gaza ermordet worden.
Deutschland bestelle nicht einmal den israelischen Botschafter ein. So ist
das also: Juden ermorden Deutsche in Gaza.
Während meiner 17 Tage in Israel summieren sich die Raketen der Hamas zu
2.500 Terroranschlägen, die jeden treffen könnten. Juden, Muslime, Christen
oder Buddhisten, Gläubige und Ungläubige, Beduinen, Araber, Drusen und
Touristen, Alte und Kinder, Linke und Rechte. Mit ihren Raketen nimmt Hamas
die eigene Bevölkerung als Geiseln.
Morgens um drei am Flughafen, vor der ersten Sicherheitskontrolle, gibt es
Alarm. Die Schlange der Wartenden wird ins nächste Treppenhaus geführt. Da
steht nicht wegen, sondern trotz der Raketen der Hamas das ganze Land
beisammen: eine säkulare israelische Familie mit zwei Kindern, eine junge
arabische Frau mit Kopftuch in Begleitung ihres Vaters und ein paar Jungs
mit Kippa.
1 Aug 2014
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Israel
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Alarm
Terroranschlag
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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