| # taz.de -- Mail aus Jerusalem, Teil 1: Ramallah, Bethlehem und Retour | |
| > Eine berufstätige Mutter im Auto, die versucht, Arbeit und Kind unter | |
| > einen Hut zu bekommen – ganz normal? Der Teufel steckt im Detail. | |
| Bild: Alltag in der Altstadt von Jerusalem am Damaskustor. | |
| Anfahrt Jerusalem. Die neue Schnellstraße führt direkt auf die Altstadt zu. | |
| Ab einem bestimmten Punkt kann man die goldene Kuppel des Felsendoms sehen. | |
| Ein kurzer magischer Moment, dann drängt der Verkehr wieder. Die Straße | |
| wird dreispurig. Geradeaus geht es in Richtung Altstadt, links in die | |
| israelische Siedlung Pisgat Zeev und rechts nach Beit Hanina. Aus den Boxen | |
| dröhnt gerade „… aaaallle Vögel, aalllee!“, und vom Kindersitz kommt ein | |
| bestimmendes: „Mamaaa, sing mit!“ | |
| Ich bin mit meiner Tochter Clara unterwegs. Autokolonnen schieben sich nur | |
| mühsam durch das Nadelöhr Qalandija. Qalandija ist eigentlich ein Dorf. | |
| Jetzt aber steht sein Name für einen Grenzposten, der sich über die letzten | |
| Jahre schleichend in einen Terminal-ähnlichen Grenzübergang verwandelt hat | |
| – es ist der einzige Übergang für Palästinenser zwischen nördlichem | |
| Westjordanland und Jerusalem. | |
| Rechts und links des Wegs dominiert das Grau. Stacheldraht, Überreste von | |
| verkohlten Gummireifen, die Mauer und Graffiti. Die Hitze flirrt über der | |
| Straße, und ohne Klimaanlage geht im Wagen gar nichts. Ein Straßenverkäufer | |
| klopft an die Scheibe. Alles Mögliche wird angeboten, Socken im 10er-Pack, | |
| Kopfkissen in Quietschrosa, Kaugummi, Eis und Parfüm. „Mama, was will der | |
| Mann?“ „Nichts.“ Weiter, im Schritttempo. Neben uns Soldaten mit | |
| Maschinengewehren im Anschlag. Pass vorzeigen, Kofferraum öffnen und | |
| weiter. | |
| Ich bringe Clara zu ihrer Tante, nach Beit Safafa, einem palästinensischen | |
| Dorf, das in „Großjerusalem“ eingemeindet wurde und am anderen Ende der | |
| Stadt liegt, kurz vor Bethlehem. Ramallah, Jerusalem, Bethlehem und retour. | |
| Und das vor Arbeitsbeginn. Ihre Tante führt eine Kinderkrippe. Eigentlich | |
| ist meine Tochter zu groß für die Krippe, aber es ist Familie, und später | |
| kann sie noch mit ihren Cousins spielen, beruhige ich mich, während ich im | |
| Kopf meine Termine durchgehe, gleichzeitig auf den Verkehr achte und nicht | |
| vergesse, fröhlich mit meiner Tochter „… zwitschern, tirilieren“ zu sing… | |
| Auf den ersten Blick kein ungewöhnliches Bild: berufstätige Mutter | |
| versucht, Arbeit, Haushalt und Kind unter einen Hut zu bekommen. Wie so oft | |
| steckt der Teufel im Detail. Es ist der zweite Tag der Waffenruhe und mein | |
| dritter Arbeitstag nach meiner Rückkehr aus Deutschland. | |
| Meine unsichtbaren Antennen sind nach allen Seiten ausgerichtet, mein Blick | |
| scannt die Umgebung nach möglichen Zeichen ab, die eine Auseinandersetzung | |
| ankündigen könnten. Gleichzeitig versuche ich meine Gefühle im Zaum zu | |
| halten. Nie zuvor habe ich die Stadt so sehr als geteilt empfunden. Jedes | |
| Auto, das an mir vorbeifährt, scheint sich entscheiden zu müssen, auf | |
| welcher Seite es steht. Es gibt kein Dazwischen mehr. Keine Normalität. | |
| Etwas später treffe ich im Büro unserer Kunstgalerie in Ostjerusalem ein. | |
| Wir haben Teamsitzung und besprechen unser weiteres Vorgehen. Welche | |
| Ausstellung wir wann machen. Wie wir auf die Situation eingehen. Es fällt | |
| mir schwer. Schwerer als gedacht. Alles scheint auf den ersten Blick | |
| normal. Jeder funktioniert. Aber etwas ist anders. | |
| Beit Safafa, später Nachmittag. Bevor ich meine Tochter abhole, muss ich | |
| noch schnell einen Lolli kaufen. Das hatte ich ihr versprochen. Die Auswahl | |
| ist nicht groß. Man kann zwischen Cola-Kaugummi extra sauer und einem | |
| kleinen Sortiment quietschgelber, roter und giftgrüner Lollis auswählen. | |
| Ich ringe mit mir und wäge ab, welches Chemiegemisch noch zu vertreten ist, | |
| als ein etwa zwölf Jahre alter Junge in Sporthose und T-Shirt in den Laden | |
| kommt und direkt auf den Verkäufer zusteuert. Man kennt sich in Beit | |
| Safafa. Der palästinensische Verkäufer, selbst nicht viel älter als 18 oder | |
| 19 Jahre, hockt vor einem Regal und sortiert Chipstüten ein. | |
| Habt ihr Kartoffeln? | |
| Ich spreche kein Arabisch, sagt der Verkäufer. | |
| Was meinst du? | |
| Ich spreche kein Arabisch. | |
| Wie? Aber … | |
| Ich spreche kein Arabisch, wiederholt der Verkäufer, steht auf, dreht sich | |
| um und bringt neue Ware, die am Eingang steht. Der 12-Jährige schaut | |
| verdattert auf und läuft ihm hinterher. | |
| Aber, ich soll doch Kartoffeln holen. Habt ihr Kartoffeln? | |
| Ich sage es dir noch mal, ich spreche kein Arabisch. | |
| Aber? | |
| Ich habe sie nicht mehr. | |
| Wie, ich verstehe nicht … | |
| Meine Sprache. | |
| Unschlüssig bleibt der 12-Jährige stehen. „Kartoffeln findest du drüben. In | |
| der Ecke“, ruft jemand hinter dem Verkaufstresen für Wurst und Käse. Der | |
| zweite Verkäufer springt auf und zeigt nach hinten. | |
| Bei Claras Tante angekommen, rennt mir meine Tochter entgegen. „Hast du mir | |
| was mitgebracht?“ Begeistert reißt sie mir die neonfarbigen Lollis aus der | |
| Hand. „Komm, Schatz, wir müssen nach Hause.“ „Gleich, will noch schnell | |
| fertig spielen.“ Und weg ist sie. „Qalandija ist jetzt eh voll“, sagt mei… | |
| Schwägerin lächelnd. Ich seufze, nehme den Kaffee an, um mich für den | |
| Rückweg zu wappnen. Die Kinder schreien begeistert auf, und ich verlier | |
| mich schweigend im Kaffeedampf. Die Nachrichten flirren über den | |
| Bildschirm. Ich denke an den Jungen aus dem Laden. Sprachlosigkeit kann | |
| manchmal die einzig wahre Meinungsäußerung sein. | |
| 3 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Alia Rayyan | |
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