# taz.de -- Fotografie und Betrachtung: Die Suche nach dem Stich | |
> Im Kunstverein Salzburg beschäftigt sich eine Foto-Ausstellung mit dem | |
> „Punctum“, einem Detail, das den Betrachter wie ein Pfeil trifft. | |
Bild: 50 Künstler suchten für „Punctum“ jeweils eine Fotografie aus, die … | |
Eigentlich ist es seltsam, dass „Die helle Kammer“, Roland Barthes’ | |
mittlerweile 35 Jahre alten „Bemerkungen zur Photographie“, noch heute | |
Pflichtlektüre des intellektuellen Aficionados ist. Auslöser des Essays war | |
bekanntlich ein Kinderfoto seiner geliebten Mutter, auf das er nach ihrem | |
Tod stieß und dessen Anblick ihn zutiefst traf. Seine daraus resultierenden | |
poetisch formulierten melancholischen Überlegungen – von jeher umstritten, | |
inzwischen von vielen auch als altmodisch abqualifiziert – haben den | |
ungebrochenen Reiz eines Manifests. | |
Zwei Wirkungsweisen kennzeichnen die Fotografie, sagt Barthes. Das ist | |
zunächst die von ihm als „studium“ bezeichnete mehr oder weniger intensive | |
Aufmerksamkeit, die ein Motiv hervorrufe. Aber dann ist da noch das | |
„punctum“, ein Detail, ein Element, etwas Zufälliges, das „wie ein Pfeil | |
aus seinem Zusammenhang“ hervorschieße, um den Betrachter „zu durchbohren�… | |
einen Stich hinterlassend, ein winziges Loch. | |
Mit der Bitte, jeweils eine Fotografie auszuwählen, die diesen Begriff | |
exemplarisch illustriert, ist nun Séamus Kealy, der neue Direktor des | |
Salzburger Kunstvereins, an fünfzig Schriftsteller, Künstler, Fotografen | |
und Kuratoren herangetreten. Ergebnis ist ein aneinandergereihtes Band von | |
Fotografien, die absolut nichts gemein haben. Dem Besucher zieht es erst | |
mal den Boden unter den Füßen weg. Schließlich ist er Präsentationen | |
gewohnt, die monothematisch, retrospektiv sind oder die in einem irgendwie | |
überspannenden Bogen einigermaßen schlüssige Zusammenhänge herstellen – u… | |
das Barthes’sche „studium“ bedienen. | |
Wie subjektiv das „punctum“, diese Verwundung empfunden respektive | |
wahrgenommen werden kann, zeigt sich, sobald man in der Broschüre, die die | |
Ausstellung begleitet, die anregenden Begründungen und Kriterien der | |
jeweiligen „Kuratoren“ liest, auch wenn sie manchmal gar nicht so einfach | |
nachzuvollziehen sind. | |
## Die Symbolik in den Bildern | |
Dem französischen Philosophen und seiner Theorie vom Foto als einem Symbol | |
der Unsterblichkeit am nächsten kommt der Künstler Felix Gmelin, der den | |
Screenshot einer Skype-Unterhaltung mit seiner Mutter beigesteuert hat. Von | |
der alten Dame ist lediglich der schlohweiße Haarschopf zu sehen. Der | |
Stich? „Wenn ich dieses weiße Haar auf Skype sehe, befürchte ich manchmal, | |
dass dies das letzte Bild ist, das ich von meiner Mutter sehe.“ | |
Die Fotografin Ana Jermolaewa hat eine eigene Aufnahme mit drei uralten | |
Autos am Rande eines Markts in Samarkand gewählt, eine Frau starrt den | |
Betrachter durch das Heckfenster an, das kleine Mädchen daneben wendet ihm | |
den Rücken zu. Sie ist das „punctum“, das schmerzende Geheimnis. | |
Weit kryptischer noch ist – beim ersten Hinsehen – die Wahl des | |
libanesischen Künstlers und Schriftstellers Rabih Mroué. Ein fast | |
unsichtbarer Schatten im verpixelten Weiß eines Handyfotos irritiert. Es | |
ist einer der Aufständischen, ermordet von Scharfschützen 2012 in Homs. | |
Mroué begleitet dieses symbolhafte, nicht dokumentarische Zeugnis mit einem | |
unfassbar traurigen Gedicht: „Ich weiß nicht, ob ich jemals dieses Weiß | |
sah; ein Weiß ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart, ohne Zukunft …“ | |
## Fundstück Randnotiz | |
Die kanadische Künstlerin Corin Sworn hat ihre Begründung mit der | |
Überschrift „Geistreiche Kritik oder das punctum verfehlen“ überschrieben | |
und ein banales Dessousfoto geliefert, das sie in einer Illustrierten im | |
Wartezimmer eines Zentrums für sexuelle Gesundheit entdeckt hat. Den Stich | |
(er muss ja nicht immer wehtun) hat ihr die hingekrakelte Randnotiz eines | |
vorherigen Patienten versetzt. In feinstem Schottisch steht da „Ye no | |
cauld, hen?“ („Frierst du nicht, Kleine?“), ihr „punctum“. | |
Noch pointierter und perfider unterläuft der englische Autor Geoff Dyer die | |
psychologisierende Theorie Barthes’ mit Oscar de Marcos’ Aufnahme eines | |
spanischen Stierkämpfers mit vernarbtem Gesicht und Augenklappe, in der | |
einen Hand ein Huhn, in der anderen etwas Undefinierbares. | |
Eine Ansammlung von verstörenden Aspekten, doch Dyer beunruhigt der Mann, | |
der gebückt hinter dem tragischen Helden in der Arena steht. „Sehen Sie | |
sich den Typen genau an, der im verschwommenen Hintergrund Golf spielt, na, | |
der muss ja wirklich Eier in der Hose haben“, spottet er, die Zusammenhänge | |
scheinbar völlig verkennend. Es bleibt also dabei: Jeder sieht, was er | |
sehen will. Auch wenn es ein paar Spielregeln gibt. | |
Zusammen mit „Invisible Man“ von Andreas Wutz, einer Fotoarbeit, bei der | |
erst allmählich ein im Schatten von Bäumen sitzender Mann erkennbar wird, | |
liefert Barbara Probst, Bildhauerin und Fotografin, die ein wenig die | |
mystische Bedeutung relativierende, entscheidende Definition. Unsere | |
Rührung über ein Detail oder eine Stimmung in einer Fotografie beziehe | |
sich, wie sie schreibt, rein auf die fotografische Spur des vergangenen | |
Moments, nicht aber auf das Vergangene selbst. | |
Schöner, eingängiger und bei aller Ernsthaftigkeit unprätentiöser (na ja, | |
manche Texte sind schon sehr gescheit und theorielastig, aber die Bilder | |
und ihr Kontext funktionieren allemal) kann eine Schule des Sehens nicht | |
sein. Den Luxus, über das Wesen der Fotografie auf der Basis prädigitaler | |
Anmerkungen eines grandiosen Semiotikers nachzudenken, den muss man sich | |
„inmitten des heutigen Getöses von Bildern“ (Séamus Kealy) einfach leiste… | |
12 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Annegret Erhard | |
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