# taz.de -- 175 Jahre Fotografie: Leben auf der Festplatte | |
> Ich – mit Merkel, am Strand, beim Feiern. Der Moment gilt nur noch als | |
> erlebt, wenn ein Beweisbild existiert. Geht uns dabei der Augenblick | |
> verloren? | |
Bild: Sogar Prominente sind bereits Fans von Selfies, Belfies und Co. | |
„Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“, johlt die neunzehnjährige | |
Nina Hagen. „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön's hier war ha ha.“ Es | |
ist das Jahr 1974 als sie die Zeilen über einen Sommerurlaub auf Hiddensee | |
zum ersten Mal singt. | |
Heute, genau vierzig Jahre später, lädt Nina Hagen verwackelte Selfies auf | |
ihre Facebook-Seite hoch. Das Kinn ist halb abgeschnitten, ihr Bick geht | |
links aus dem Bild, die schwarzen Haare leuchten mit Blaustich. Man kann | |
den Farbfilm nicht mehr vergessen in Zeiten von Smartphones und | |
Mini-Digitalkameras. Aber das Gefühl, dass etwas, das nicht festgehalten | |
wurde, später nicht mehr wahr ist, ist stärker denn je. | |
Allein in diesem Jahr wurden bereits über 56 Milliarden Fotos auf Facebook | |
hochgeladen. Das sind 260 Millionen Bilder am Tag – Tendenz steigend. Wir | |
fotografieren am laufenden Band und am liebsten uns selbst. | |
## Gruppenbild, Nahaufnahme, Selfie | |
Gruppenbild vorm Eiffelturm, Nahaufnahme des Burger-Belags, Selfie auf dem | |
Laufband. Die Liste ist endlos. Genauso wie der Druck befreundeter | |
Facebook-User, bei diesem exzessiven Fotografieverhalten mithalten zu | |
müssen. In den vergangenen Jahren sind in den USA und England mehrere | |
Studien erschienen, durch die Forscher herausfanden, dass junge Erwachsene | |
von Depressionen bedroht sind, weil sie immerzu mit den vermeintlich | |
aufregenden Lebensmomenten ihrer Freunde konfrontiert werden - und die | |
eigenen Erlebnisse nicht mithalten können. | |
„Wir sind dazu verdammt, Archivare oder Regisseure eines Alltags zu werden, | |
der nicht wie ein Alltag aussehen darf“, schreibt Arno Frank. In in der | |
Titelgeschichte der [1][taz.am wochenende vom 16./17. August 2014] denkt | |
der sonntaz-Autor darüber nach, woher die Fotomanie kommt und wie sie | |
unsere Psyche beeinflusst. | |
Für ihn ist das permanente Sichablichten-Müssen zu einer Art natürlichem | |
Zwang geworden – einem reflexartigen Verhalten. „Ist es nicht schon auf der | |
Straße oft Zumutung genug, in einem Slalom der Höflichkeiten den Raum | |
zwischen dem Fotografierenden und seinem Motiv zu vermeiden, um ihm nicht | |
'ins Bild zu laufen'?“ | |
## Wer nichts teilt, erlebt nichts | |
Der Druck der Netzwerke aber fordert ein, trotzdem weiter mitzumachen. Wer | |
nichts teilt, erlebt nichts. „Hat denn überhaupt stattgefunden, was weder | |
dokumentiert, noch geteilt wurde? Ist denn eine Reise wahr, wenn sie nur in | |
den Neuronen des Reisenden gespeichert ist und indirekt belegt durch | |
Quittungen, Tickets, Mückenstiche?“, fragt sich unser Autor. | |
Dabei ist es genau anders herum, wie eine Studie belegt, die im Juli im | |
Magazin Psychological Science veröffentlicht wurde: Die Psychologin Linda | |
A. Henkel hat eine Gruppe von Probanden ohne Fotoapparat in ein Museum | |
geschickt und die andere mit. Diejenigen, die während des Besuches | |
fotografiert haben, konnten sich weniger an die Umgebung, Objekte und | |
einzelne Details erinnern als jene, die nicht geknippst haben. | |
Die Fotografie feiert in der kommenden Woche ihren 175. Geburtstag. Vor | |
einem vollen Saal von Naturwissenschaftlern und Künstlern stellt ein | |
Physiker am 19. August 1839 in der französischen Akademie der | |
Wissenschaftler erstmals die Erfindung des Malers Louis Daguerre im Detail | |
vor. Eine Erfolgsgeschichte begann. Das Bedürfnis hinter der Technologie | |
ist seitdem dasselbe geblieben: den Moment festhalten. Gleichzeitig haben | |
sich die Möglichkeiten potenziert, diesem Bedürfnis nachzukommen. | |
Ein hoffnungsloser Versuch, meint Arno Frank. „Die Geliebte, Freunde, | |
Verwandte und das eigene Selbst werden eines Tages zuverlässig zu Staub | |
zerfallen“, schreibt er in der taz.am wochenende. „Sie im Bild zu bannen | |
und damit festhalten zu wollen ist so verständlich wie vergeblich.“ | |
Was ist wertvoller: eine Festplatte voll Bilder oder ein Kopf voller | |
Erinnerungen? Wie viele Fotos haben Sie auf eurem Smartphone? Und können | |
Sie sich vorstellen, ohne eine einzige Belegaufnahme aus dem nächsten | |
Urlaub zu kommen? | |
Diskutieren Sie mit! | |
Die Titelgeschichte „Schwer überbelichtet“ lesen Sie in der [2][taz.am | |
wochenende vom 16./17. August 2014]. | |
15 Aug 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Ausgabe-vom-16/17-August-2014-/!144162/ | |
[2] /Ausgabe-vom-16/17-August-2014-/!144162/ | |
## AUTOREN | |
Anne Dittmann | |
## TAGS | |
Fotografie | |
Selfie | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Schwerpunkt Meta | |
Kameras | |
Schwerpunkt Meta | |
Schwerpunkt Meta | |
Sachverstand | |
Schwerpunkt Meta | |
Israel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Urlaubsfake auf Facebook: Schöne falsche Welt | |
Eine Niederländerin postet ihren Asien-Trip auf Facebook – doch der Urlaub | |
ist nur vorgetäuscht. So einfach funktioniert das Verzerren der Realität. | |
Trauerseiten im Internet: Verzweiflung klickt sich | |
Viele Facebook-Seiten für Verstorbene sind gefälscht. Von | |
„Trauertrittbrettfahrern“ spricht eine Wissenschaftlerin, die das Phänomen | |
erforscht. | |
Kolumne Sachverstand: Wenn der Spiegel böse starrt | |
Wer allein wohnt, muss sich eben mit der Einrichtung unterhalten. Und die | |
hat einiges zu erzählen. Heute: der Spiegel. | |
Fotografie und Betrachtung: Die Suche nach dem Stich | |
Im Kunstverein Salzburg beschäftigt sich eine Foto-Ausstellung mit dem | |
„Punctum“, einem Detail, das den Betrachter wie ein Pfeil trifft. | |
was fehlt ...: ... die Erlaubnis des Affen | |
Kommentar Urlaubsbilder auf Facebook: „Und ihr so?“ | |
You take myself, you take my selfie control: Im Sommer steigt die | |
Selbstdarstellung im Netz. Und man ist permanent am falschen Ort. | |
Gaza-Initiative im Netz: Und ewig lockt das Selfie | |
Um für Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern zu werben, posten | |
Menschen Bilder, die sie mit Hummus zeigen. Eine Verzweiflungstat. |