| # taz.de -- Symboltier des Artensterbens: Das Vermächtnis der Wandertaube | |
| > Sie war der häufigste Vogel Nordamerikas, über drei Milliarden | |
| > Wandertauben lebten im 19. Jahrhundert. Vor 100 Jahren starb die letzte | |
| > ihrer Art. | |
| Bild: Tot, tot, tot, tot: Vogel-Schießen in Louisina in den 1870er Jahren. | |
| Es war eines der größten Naturwunder der Erde. Wenn ein Schwarm | |
| Wandertauben auf Reisen ging, verdunkelte sich der Himmel, vergleichbar nur | |
| mit einer Sonnenfinsternis. Von Horizont bis Horizont sahen staunende | |
| Menschen nur noch gefiederte Leiber von Millionen und Abermillionen dieser | |
| Vögel, manchmal stunden-, manchmal sogar tagelang ohne Unterbrechung. | |
| Der berühmte Ornithologe John James Audubon wurde 1813 in Ohio Zeuge eines | |
| solchen Zuges: „Die Luft war buchstäblich gefüllt mit Tauben; der Dung fiel | |
| in Placken, nicht unähnlich schmelzendem Schnee; das andauernde Dröhnen der | |
| Flügel begann, mich in den Schlaf zu wiegen.“ | |
| Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Wandertaube, die im | |
| Amerikanischen passenger pigeon und in der Wissenschaft Ectopistes | |
| migratorius heißt, der häufigste Vogel Nordamerikas, wahrscheinlich sogar | |
| der Welt. Der Bestand zu dieser Zeit wird auf drei bis fünf Milliarden | |
| Exemplare geschätzt, er machte 25 bis 40 Prozent der gesamten | |
| Vogelbevölkerung der USA aus. Die mit einer Körperlänge von rund 40 | |
| Zentimeter für Taubenverhältnisse recht großen Vögel waren wahre | |
| Flugkünstler, die mit Geschwindigkeiten von über 100 km/h über Wälder und | |
| Prärien zogen. | |
| Sie lebten bevorzugt in riesigen Kolonien in Nordamerika östlich der Rocky | |
| Mountains, wo sie in gewaltigen Massenansammlungen in den Wäldern nisteten | |
| und ihre Nahrung suchten, die aus Beeren, Eicheln und Nüssen bestand. Ein | |
| einziger Baum konnte mit über 130 Nestern überzogen sein, Äste brachen | |
| unter der Belastung. Ein Waldstück, das den Tauben zur saisonalen Heimat | |
| geworden war, sah anschließend aus, als sei ein Tornado durchgezogen. Auch | |
| deshalb wanderten die Vögel so rastlos umher. | |
| Den amerikanischen Ureinwohnern der östlichen Wälder und Prärien war die | |
| Wandertaube ein wichtiger Lieferant von Fleisch und Fett, aber trotz der | |
| scheinbar unerschöpflichen Bestände jagten sie die Tiere nur in strengen | |
| Ritualen und nahmen keinen störenden Einfluss auf die Population. | |
| ## Leichte Beute | |
| Das änderte sich schlagartig mit der Ankunft der europäischen Siedler. In | |
| der fremden Wildnis wirkten Tauben im Grundsatz vertraut, nur dass die | |
| Ausgabe in der Neuen Welt größer und hübscher war – während die Weibchen | |
| eher taubengrau erschienen, zeigten die Männchen durchaus kräftige Rottöne. | |
| Vor allem aber waren sie sehr leicht zu erjagen. Flogen sie tief, konnte | |
| man sie mit Knüppeln und Netzen einfach aus der Luft holen, ansonsten | |
| erwiesen sich Gewehre als ausgesprochen effektiv. | |
| Selbst ungeübte Schützen erlegten problemlos ein halbes Dutzend auf einen | |
| Streich, auch wenn sie nur orientierungslos in einen Schwarm ballerten. | |
| Rekordergebnisse von über 60 Tieren pro Salve sind verbürgt. Die | |
| Wandertaube wurde so zu einer wichtigen Versorgungsstütze der ins Inland | |
| drängenden Siedlerfront. | |
| Das eigentliche Desaster begann dann einige Jahrzehnte später mit der | |
| Industrialisierung und Kommerzialisierung der sich entwickelnden | |
| amerikanischen Gesellschaft. Die scheinbar überreichlichen natürlichen | |
| Ressourcen haben die Neuamerikaner geradezu in einen Blutrausch versetzt. | |
| Hemmungslos wurde alles abgeschossen, was nur irgendwie zu vermarkten war. | |
| Es kam zu regelrechten Massakern. An einem Nistplatz in Kentucky wurden | |
| über einen Zeitraum von fünf Monaten täglich 50.000 Vögel getötet. | |
| Der Ausbau des Telegrafenmasten-Netzes im Hinterland führte dazu, dass | |
| spezialisierte Wandertaubenjäger von gerade gelandeten Nistkolonien der | |
| Vögel rasch Wind bekamen, die neu errichteten Eisenbahnstrecken | |
| ermöglichten den Abtransport der erlegten Vögel. Ein einziger Jäger hat im | |
| Lauf seiner Karriere drei Millionen Tiere zu seinem Auftraggeber geschickt | |
| – und 1880 gab es etwa 1.200 hauptberufliche Wandertaubenjäger. | |
| Gleichzeitig wurden gerade im Bereich der Großen Seen, dem Kernbrutgebiet, | |
| die Wälder immer stärker gerodet, sodass den Wandertauben nach und nach | |
| Nahrungsgrundlage und Nistplätze genommen wurden. | |
| Schließlich ging alles ganz schnell. Es waren nur wenige Jahrzehnte | |
| besinnungslosen Abschlachtens und Zerstörens nötig, um die bis in die | |
| zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch massenhaft vorkommenden Vögel | |
| auszurotten. Erste Warnungen vor der Tragödie stießen auf taube Ohren. Eine | |
| Vorlage zum Schutz der Tiere wurde in Ohio noch 1857 vom Senat abgelehnt | |
| mit der Begründung: „Die Wandertaube benötigt keinen Schutz. Sie ist auf | |
| wunderbare Weise überaus fruchtbar, nistet in den unermesslich weiten | |
| Wäldern des Nordens, wandert Hunderte Meilen auf der Suche nach Nahrung, | |
| ist heute hier und morgen dort, und kein denkbarer Eingriff kann ihren | |
| Bestand verringern oder überhaupt nur bemerkt werden angesichts der | |
| Myriaden, die jährlich nachkommen.“ | |
| Eine Fehleinschätzung. Bereits Anfang der 1880er waren die Tiere selten | |
| geworden, 1890 waren sie fast verschwunden. Das letzte verbürgte | |
| freilebende Exemplar wurde 1900 von einem vierzehnjährigen Jungen mit dem | |
| Luftgewehr erlegt. Viel zu spät hatten sich Zoos und private Vogelzüchter | |
| der Art angenommen, die winzigen Bestände in Gefangenschaft reichten nicht, | |
| den Bestand durch Nachzucht zu erhalten oder gar wieder aufzubauen. | |
| ## Fehlgeschlagene Zuchtversuche | |
| Die letzten Wandertauben lebten im Zoo von Cincinnati in Ohio, wo | |
| Zuchtversuche fehlschlugen, bis schließlich nur noch eine übrig war: | |
| Martha. Sie lebte nach dem Tod ihrer letzten Artgenossen noch einige Jahre | |
| lang allein, bis sie schließlich am 1. September 1914 um 13 Uhr tot auf dem | |
| Boden ihres Käfigs lag. Das Tier wurde eingefroren und kam ins | |
| Smithsonian-Institut, wo es präpariert wurde und bis heute verwahrt wird. | |
| Marthas Käfig im Zoo wurde als Denkmal erhalten und der Kern einer | |
| Ausstellung über die Ausrottung dieser Tierart. | |
| Die Wandertaube war weder die erste noch blieb sie die letzte Spezies, die | |
| durch den Menschen für immer vom Globus verschwand. Aber der Fall gilt bis | |
| heute als Meilenstein der Biodiversitätskrise. Niemand hätte für möglich | |
| gehalten, dass eine derart häufige, prominente Art einfach so verschwinden | |
| könnte. Die Katastrophe wirkte wie ein Schock und gab der noch jungen | |
| Naturschutzbewegung in den USA erheblichen Auftrieb. | |
| Bei den Bisons, die um Büffelhaaresbreite den gleichen Weg gegangen wären, | |
| konnte die endgültige Auslöschung gerade noch durch Zuchtbemühungen in Zoos | |
| und das Aufpäppeln eines letzten Herdenrestes im Bereich des | |
| Yellowstone-Nationalparks verhindert werden. Bei anderen kam jede Hilfe zu | |
| spät. | |
| ## Bedrohte Nashörner und Frösche | |
| Der Karolinasittich, die einzige Papageien-Art der USA, trat seinen letzten | |
| Flug nur einige Jahre nach der Wandertaube an – in schicksalhafter Fügung | |
| ebenfalls im Zoo von Cincinnati. Und es hört nicht auf. Nashörner etwa | |
| haben heute nur noch eine Chance, indem sie in Zoos gezüchtet werden; die | |
| Freilandbestände stehen kurz vor der endgültigen Auslöschung. Und | |
| weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit droht eine viel größere | |
| Katastrophe bei den Fröschen, von denen ganze Gattungen verschwinden, | |
| weniger durch gezielte Bejagung, aber nicht minder tödlich durch | |
| Lebensraumzerstörung und eine sich durch menschliches Wirken global | |
| ausbreitende Pilzerkrankung. | |
| Die Menschheit scheint, gleich dem Senat von Ohio 1857, zu glauben, dass | |
| Tiere schon irgendwie immer weiter da sein werden, weil sie schon immer da | |
| waren. Wenn sie sich da mal nicht täuscht. Noch einmal Ornithologe Audobon: | |
| „Als ein Falke sich einem Schwarm Wandertauben näherte, zogen sie sich alle | |
| auf einmal wie ein reißender Strom zu einer kompakten Masse zusammen, mit | |
| einem Geräusch wie Donner. Ich kann Ihnen die extreme Schönheit ihrer | |
| Bewegungen in der Luft gar nicht richtig beschreiben.“ | |
| Das ist schade, denn wir werden nie die Gelegenheit bekommen, sie selbst zu | |
| beobachten. | |
| 1 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Heiko Werning | |
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