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# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 40 (Schluss): 93 Jahre und ein Früh…
> Mütterchen starb zu Beginn des Sommers. Jetzt ist wieder Sommer.
> Sommerende. Auch der Urlaub auf Hiddensee ist zu Ende - und dieser Roman.
Bild: "Der Schmetterling bewegt zweidreimal die Flügel, fliegt dann noch eine …
Mütterchen starb am 22. Juni 2005. Im Hof des St. Elisabeth Seniorenheims
wurde Sommerfest gefeiert. Der Duft von gebratenen Würsten wehte zum
offenen Fenster herein, zwei Lautsprecher schepperten „Eviva España“. In
Zimmer 217 im zweiten Stock, linker Seitenflügel stand eine Familie um das
Bett ihrer Großmutter. Zwei Töchter, ein Schwiegersohn, drei Enkel. „Sie
ist ganz friedlich eingeschlafen“, sagte Tante Erna und schniefte.
Mütterchen war morgens mit Fieber aufgewacht. Die Krankenschwestern hatten
die Töchter angerufen. Erna kam und ein Arzt. Der guckte sich Mütterchen
kurz an, dann sah er Tante Erna in die Augen: „Wahrscheinlich
Lungenentzündung“, sagte er. Erna schluckte. „Ich kann sie jetzt ins
Krankenhaus mitnehmen“, sagte der Arzt, „dann kommt sie an die
Beatmungsmaschine und kriegt Medikamente.“ Er verstaute das Stethoskop in
seinem Arztkoffer und räusperte sich. „Aber janz ehrlich“, fuhr er fort,
„wenn ditt meine Mutter wäre, würdick ditt nich machen.“
Erna presste die Lippen aufeinander, schluckte noch mal, dann nickte sie.
Der Arzt gab Mütterchen eine Paracetamol, dann verabschiedete er sich.
Gegen 15 Uhr war es vorbei, dieses Leben, das 93 Jahre und einen Frühling
gedauert hatte, durch zwei Weltkriege, sechs Staatsformen, 25 Liebhaber, 69
Inszenierungen, 93 Sommer.
Neun Jahre, zwei Monate und sechs Tage später ist wieder Sommer. Ich sitze
auf der Terrasse eines winzig kleinen Ferienhäuschens auf Hiddensee. Heute
ist das vorletzte Kapitel erschienen. Im Konsum in Vitte gibt es die
Berlin-taz zu kaufen. Es ist unser letzter Urlaubstag. Ich bin ganz
wehmütig.
Als Mütterchen starb, war ich noch mal mit ihr alleine. Mit dem Rest von
ihr. Eine Stunde vielleicht. Ich sitze an ihrem Bett und streichele ihre
kleine kalte Hand. Die Haut fühlt sich an wie Pergament. „Hatte sie ein
Lieblingsnachthemd, das wir ihr anziehen sollen?“, haben die
Krankenschwestern gefragt. Erna und ich haben uns angesehen. „Kein
Nachthemd“, sagten wir beide, „sie war doch Hosenträgerin.“ Gemeinsam
suchten wir eine hübsche geblümte Bluse aus dem Schrank und eine nachtblaue
Stoffhose. Die Krankenschwester hatte eine kleine Sorgenfalte auf der
Stirn. Es ist sicher nicht leicht, einen Leichnam anzuziehen. Die Glieder
werden schwer und starr. Ein Hemd wäre sicher einfacher. Die Pflegerin
untersuchte die Kleidungsstücke, dann rief sie begeistert: „Die sind ja mit
Gummizug!“ Erna und ich lächelten.
„Fiesta, Fiesta Mexicana“ schmettert Rex Gildo durch den Hof nach oben. Ich
lächle zufrieden. Das ist ein Tod, wie er Mütterchen zusteht. Mit Pauken
und Trompeten, irgendwie feierlich und ein kleines bisschen daneben. Ein
Schmetterling kommt durch das offene Fenster über ihrem Bett
hereingeschaukelt und setzt sich auf ihre Schulter. Ich halte den Atem an.
Der Schmetterling bewegt zweidreimal die Flügel, fliegt dann noch eine
Runde durchs Zimmer und schaukelt durchs Fenster von dannen. Ich weine ein
bisschen. Es gibt Dinge, die soll man nicht hinterfragen. Als wir ein paar
Wochen später Mütterchens Asche zu Grabe tragen – Mütterchen wollte
verbrannt werden: „Ick will nich, dass die Würmer an mir rumnagen“, hat sie
gesagt – als wir in einem kleinen Trauerzug mit Dudelsackbegleitung über
den Friedhof Friedrichsfelde marschieren, kommt ein Schmetterling und setzt
sich der Urnenträgerin auf die Schulter. „Guck“, sage ich zu Tante Erna und
Tante Erna nickt.
Es ist August, ich bin 35 Jahre alt und tippe diese Worte in einen winzig
kleinen Computer, den ich auf meinen Knien balanciere. Vor mir im Gras
sitzt eine rote Katze mit Persereinschlag und putzt ihr wolkenwatteweiches
Fell. Manchmal guckt sie mich aus ihren gelben Augen an, wenn ich laut
„Quatsch!“ sage beim Schreiben oder „Ach ja!“
Ich habe diesen Roman geschrieben, weil ich wissen wollte, wie ein Mensch
so cool werden konnte, so herzlich, so menschlich, so abgebrüht und
unerträglich. Wie kann jemand so furchtlos werden?
Als ich angefangen habe, diesen Roman zu schreiben, wusste ich nicht, wo
ich anfangen soll. Normalerweise erzähle ich Geschichten aus meiner eigenen
Realität, die mich umgibt wie ein 360-Grad-Panorama. Wenn ich erzähle,
schneide ich aus diesem Panorama ein kleines Stück heraus und forme dies zu
einer Geschichte, lasse was weg, tue was dazu. Bei diesem Roman waren die
Voraussetzungen umgekehrt. Ich hatte kein Panorama, nur lauter winzig
kleine Versatzstücke, die alle nicht zusammenpassten.
Ich weiß bis heute nicht, wer diese Frau war, die wir Mütterchen nannten.
Aber das macht nichts. Ich habe meinen unbekannten Großvater kennengelernt
und andere Versionen meiner Großmutter. Ich habe gelernt, dass es nicht
wichtig ist, alles zu wissen, weil es sowieso keine Wahrheit gibt.
Mütterchen war hier Zelten auf Hiddensee. Ich habe vergessen, ob als Kind
oder später, ich habe meine Aufzeichnungen nicht dabei. Sie hat die Ostsee
geliebt wie ich. Am Ende ihres Lebens, als sie kaum noch aß und trank, weil
sie weder Hunger noch Durst verspürte, hatte sie in ihrem Kühlschrank in
der Erich-Kurz-Straße 7, Wohnung 12/05, immer eine Flasche Sanddornsaft
stehen. Es sah scheußlich aus, weil sich die festen Bestandteile immer vom
Flüssigen absetzten und nach unten sanken. Mütterchen liebte den herb
sandigen Geschmack, süß und schüttelsauer und leuchtend orange wie ein
Sonnenuntergang vor Hiddensee.
Die Liebe dauert, solange ein Kind braucht, hat Mütterchen gesagt. 40
Wochen. Wie dieser Roman.
4 Sep 2014
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Fortsetzungsroman
Berlin
Theater
Familiengeschichte
Fortsetzungsroman Der Lappen muss hoch
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Fortsetzungsgeschichte
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des Duschvorhangs.
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