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# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 39: So ein netter Junge
> In einer ihrer letzten Rollen wurde Mütterchen auf Händen getragen. Nicht
> übel - vor allem wenn es sich bei dem Träger um Daniel Brühl handelt.
Bild: Das Gefühl, auf Händen getragen zu werden, genießt man in jedem Alter.
Einer der letzten Filme, in denen Mütterchen aufgetreten ist, war der
Kurzfilm einer Studentin von der Filmhochschule. Mütterchen hat viel in
solch kleinen Projekten mitgemacht. Geld gab es kaum, aber Spaß und junge
Leute.
Ich weiß noch, wie sie in „Nichts bereuen“ mitgespielt hat, diesem
Zivildienstfilm, der Daniel Brühl den Durchbruch brachte. Nicht nur Jessica
Schwarz war von dem 22-Jährigen begeistert, auch meine Großmutter schwärmte
in den höchsten Tönen: „So ein netter Junge!“, hat sie gesagt. Sie war die
Frau Grieger, eine bettlägerige Alte, die im Laufe des Films ins Bett
macht, weil Daniel, die von Brühl gespielte Hauptfigur, zu spät zur Arbeit
kommt. „Der arme Junge musste mich olle Frau durch die Gegend schleppen!“,
erzählte Mütterchen. „Aber Omi“, sagte ich, „du wiegst doch nüscht meh…
„Na ja“, sagte Mütterchen.
Das Gefühl, auf Händen getragen zu werden, genießt man in jedem Alter.
Gerade dann, wenn man den Träger ein bisschen anhimmelt. Man vergisst auch,
dass man alt wird. Ich weiß noch, wie verwundert Mütterchen immer in den
Spiegel im Fahrstuhl im Altersheim geguckt hat. Die junge Frau, das war
sie. Aber wieso hatte sie so lange Haare? Wer war die Greisin im Rollstuhl?
Und wieso befand sie sich mit der auf einer Höhe? Das Begehren hört niemals
auf. Es ist ein Instinkt. Wie Hunger. Der lässt zwar nach, wie alles
andere, aber aufhören tut er nie.
Die letzten neun Monate ihres Lebens verbrachte Mütterchen im St. Elisabeth
Stift am U-Bahnhof Eberswalder. Es war wie eine umgekehrte Schwangerschaft.
Sie wurde immer weniger.
Die Brandmauer vom Prater in der Kastanienallee, wenn man zu den Toiletten
geht, da sieht man die rot-weißen Markisen des Altersheims. Das ruhende
Auge im Tourismusorkan. Ich bin sie dort immer gern besuchen gegangen. Von
der Kreuzung Eberswalder, einer der lautesten und hektischsten der ganzen
Stadt, trat man durch die automatische Schiebetür hinein in eine andere
Welt. Eine langsamere, friedlichere, freundlichere.
Der Innenhof mit Blumenbeeten, eine Voliere mit Wellensittichen. Eine dicke
Katze. Einmal die Woche kam eine Frau mit zwei unglaublich fetten Dackeln
vorbei. Die wurden den Omas und Opas auf den Schoß gesetzt. Wegen der
körperlichen Nähe. Sexersatz für Menschen, mit denen niemand mehr Sex haben
will. Die Hunde waren so fett, die konnten nicht mehr wegrennen. Den Alten
war es schlicht egal. Mechanisch schoben sie den armen Tieren Leckerli in
die hechelnden Mäuler. Mütterchen war da schon längst woanders. Vielleicht
tat sie auch nur so. War schließlich Schauspielerin.
Einer ihrer allerletzten Filme jedenfalls, da spielen gar keine jungen
Männer mit. Er heißt „Wer wagt, gewinnt“ und ist ein Hochschulprojekt aus
dem Jahr 1999. Ich hab das Manuskript gefunden. Zwei ältere Freundinnen
namens Hilde und Trude. Mütterchen spielt die Trude, die Textstellen sind
markiert mit orangenem Filzstift. Sie hat die Rolle redigiert, sprechbarer
gemacht. Die Geschichte geht so:
Hilde kommt zu Trude (Mütterchen) zum Kaffeetrinken. Trude wohnt im
Altersheim. Sie hat ihren Kanarienvogel mitgebracht und zwei Tupperdosen
mit Engadiner Nusstorte. Irgendwas will sie von Trude, aber sie traut sich
nicht zu fragen. Trude löst die ganze Zeit Kreuzworträtsel. „Seit zwei
Wochen quält mich das“, sagt sie. Drei Worte fehlen noch.
Wie Mütterchen selber. Die schleppte auch immer einen Stapel Rätselhefte
an, wenn sie zu uns nach Hause kam, und bat Klaus um Hilfe. Im Film weiß
sie angeblich „Maut“ nicht. „Anderes Wort für Autobahngebühren“, übe…
Mütterchen, also Trude, laut. Das ist nämlich eine Metapher für Trudes
Fernweh, während gleichzeitig Hilde das Leben draußen zu stressig geworden
ist. Deshalb tauschen sie. Hilde bleibt da, Trude geht weg. Am Schluss
kommt raus, dass Trudes Altersheim in Wirklichkeit ein Gefängnis ist. Haha.
Stellt euch folgende Szene vor: Es ist März. Mütterchen hat Geburtstag. Die
Feier findet in Karlshorst statt bei Manni und Beate, damit Mütterchen
nicht das ganze Kuchenbacken allein am Hacken hat. Schließlich wird sie
bald neunzig. Sie hat ihren neuen Film mitgebracht. Alle sind furchtbar
gespannt. Und dann, ganz am Anfang, als die Hilde in dem Film den
Speiseplan studiert und sagt: „Königsberger Klopse, das hört sich ja doll
an!“, da ruft Mütterchen aus der letzten Reihe: „Aber die sind doch im
Knast! Ditt versteht man doch ja nich!“
Ich glaube nicht, dass man seinen Sinn für Humor mit dem Alter verlernt.
Man kriegt nur einfach die entscheidenden Witze nicht mehr mit.
Zwei Jahre nach Mütterchens Tod saßen wir im Café Schönbrunn, Paul und ich.
Ein Pulk Menschen hatte die Fensterbank in Beschlag genommen. Alle
unglaublich wichtig. Man konnte es sehen an den raumgreifenden Gesten, mit
denen sie ihren Kaffee tranken. Die Frauen warfen mit Beinen, Händen und
Haaren um sich, dass man nur in Deckung gehen konnte. Die Männer hoben die
Tassen, als wären es Hanteln. Mittendrin saß Daniel Brühl. Der Ruhepol in
dem Orkan, der um ihn tobte. Ich hab echt überlegt, ob ich zu ihm hingehe:
„Erinnern Sie sich an Frau Grieger?“, hätte ich ihn gefragt. Er hätte kurz
überlegt und dann gelächelt. „Ja, Ellis Heiden!“, hätte er gesagt, „ei…
großartige Frau. Kennen Sie sie? Wie geht es ihr?“ - „Ich bin ihre
Enkelin“, hätte ich gesagt, „sie ist vor zwei Jahren gestorben.“ - „Ach
je“, hätte er gesagt und gelächelt.
31 Aug 2014
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Fortsetzungsroman Der Lappen muss hoch
Fortsetzungsroman
Fortsetzungsgeschichte
Fortsetzungsroman
Familienroman
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