# taz.de -- Die Wahrheit: Trödeln mit Einstein | |
> Zeit ist ein relatives Ding. Und Erwachsene und Kinder leben sowieso in | |
> relativ unterschiedlichen Zeituniversen. | |
Ich glaube, man braucht Albert Einstein nicht, um zu wissen, dass Zeit ein | |
relatives Ding ist. Wahrscheinlich ist er draufgekommen, als er beim | |
Zahnarzt gewartet hat. Der Warteraum pulsiert, ich habe es in meiner | |
Kindheit ganz deutlich gespürt, als Zahnarztwartezimmer noch nicht zu | |
Wellness-Arenen mit Coffee-Lounge und Hochglanzzeitschriften-Display | |
mutiert waren. Er pulsiert wie der Bohrer hinter der Tür oder der Schmerz | |
im Weisheitszahn. Und während er pulsiert, dehnt er die Zeit unerträglich | |
(Panik) und komprimiert sie dann wieder (Doppelpanik). | |
Ich war als Kind ehrlich erstaunt, als es hieß, dass unser Zahnarzt einem | |
Herzinfarkt erlegen sei – ich hielt ihn bis dahin für unerreichbar von | |
Krankheiten und anderen irdischen Widrigkeiten. Gott stellte ich mir wie | |
ihn vor. Er durfte ja sogar meine Mutter auf dem grauslichen Stuhl | |
behandeln. | |
Damals entwickelte ich mich zur Trödlerin. Erwachsene und Kinder leben | |
sowieso in relativ unterschiedlichen Zeituniversen. Ich will das nicht | |
heroisieren, das ganze Herman-van-Veeneske Getue um den poetischen | |
kindlichen Blick ist Quark: Man dröhnt einfach zufrieden vor sich hin und | |
findet sein Mantra im stundenlangen Hin-und-her-Schurren des | |
Spielzeugautos. Poesie geht anders. | |
Sich anziehen und die Schuhe zubinden, später gar Hausaufgaben machen oder | |
Abwaschen ist bei dem ganzen Getrödel überhaupt nicht drin. Kinder sind | |
nicht besser oder schlauer als Erwachsene, sie sind langsam und faul und | |
verstehen vor allem nicht, was der ganze Zirkus eigentlich soll. | |
Erstaunlich, dass aus dem langsamsten Kind der Welt (ich) die ungeduldigste | |
und unleidlichste Erwachsene werden konnte (auch ich). Wer von mir im Auto | |
angefeuert wird, wünscht sich, er wäre nie geboren worden, oder, was | |
wahrscheinlicher ist, ich wäre nie geboren worden: „Bei Grün kann man | |
anfahren! Lebst du noch, oder habe ich was verpasst? 70 gilt nicht für uns! | |
Gelb ist das neue Grün!“ | |
Ja, Welt, das ist doof, aber ich kann es nicht ändern. Vermutlich muss ich | |
all die vertrödelte Zeit meiner ersten zwanzig Jahre am Ende doch noch | |
wieder aufholen. Es ist stärker als ich, und es ist ein Fluch: Immer bin | |
ich die, die auf die Uhr guckt, weiß, wann die Züge und Flüge gehen, wann | |
das Theater beginnt und wann der allerletzte Abgabetermin ist. Ich peitsche | |
verträumte Mitmenschen durch Bahnhöfe und Foyers und jage sie gnadenlos an | |
den Schreibtisch; harmlose Mitmenschen, die in ihrem eigenen Zeituniversum | |
leben, in dem Pünktlichkeit so wahrscheinlich ist wie die Auferstehung | |
eines Zahnarztes aus einem Schälchen Götterspeise. | |
Schlaf und in die Sonne gucken spielen dagegen für diese Andersticker eine | |
wichtige Rolle. Wenn sie sich dann wieder mal beeilen müssen, weil sie ihr | |
Universum nicht rechtzeitig an den Zeitzug der restlichen Menschheit | |
angehängt haben, geben sie mir die Schuld, nur weil ich sie erinnere. Und | |
ich weiß genau, wenn ich mal nicht hingucke, schurren sie selig ihre | |
Spielzeugautos hin und her. | |
10 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Susanne Fischer | |
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