| # taz.de -- Kolumne Anderes Temperament: Große Vögel, krasse Vögel | |
| > Berlin ist nicht das Rom Pasolinis. Aber die Stadt bräuchte einen wie | |
| > ihn. Und zwar dringend. | |
| Bild: Mit Pasolini beschäftigt sich gerade eine große Ausstellung in der Stadt | |
| Feuer im Slum auf der Cuvrybrache, drei Hütten brennen, der Feuerball | |
| erhellt die ganze Cuvrystraße am Donnerstagabend. Die Mordkommission | |
| ermittelt. Das Gelände wird geräumt. Um die Ecke torkelt ein besoffener | |
| Deutscher in verdreckter Bundeswehruniform vor den abendlichen | |
| Kneipengästen und schnorrt Tabak. „Alles Juden hier“ ruft der Kerl, währe… | |
| drei Jungs mit Fitness-Studio-Oberarmen im tiefsten berlinerisch über ihre | |
| Billigflugtrips von Madagaskar über Bodrum nach Taiwan erzählen. Ein paar | |
| Straßen weiter sind Menschen auf der Art Week unterwegs, von denen einige | |
| vorher bereits auf der Music Week waren und davor die Fashion Week hinter | |
| sich gebracht haben. | |
| Zur selben Zeit am Donnerstagabend feiert im Martin-Gropius-Bau eines der | |
| größten und einflussreichsten Berliner Unternehmen für Stadtmöbel, die Wall | |
| AG, ihr 30-jähriges Toilettenhaus-Bestehen mit einem „Parlamentarischen | |
| Abend“. Vor dem Museum bläst eine Kapelle in preußischer Uniform Herrn | |
| Wowereit den Marsch. Ein paar Meter weiter stehen die Chauffeure in weißen, | |
| verschwitzten und schlecht sitzenden Hemden und unken im tiefstem | |
| berlinerisch, wer denn morgen Abend wieder als ersterunterm Tisch ihrer | |
| Köpenicker Stammkneipe liegt. | |
| Die Ungleichzeitigkeit der Dinge, die krassen Gegensätze, die Armut in | |
| dieser Stadt – man sieht sie nicht, wenn man nicht will. Das Nichtwollen – | |
| es geht hier ziemlich gut, weil eben drumherum so viel Buntes passiert. | |
| Es gibt jemanden, der – wie kaum ein anderer – den krassen Gegensätzen in | |
| modernen Städten zu Sprache und Bild verholfen hat: der Autor und Regisseur | |
| Pier Paolo Pasolini. In seinen Filmen „Accatone“ oder „Mamma Roma“ sind… | |
| die Bewohner der römischen Vorstädte, die am Rande des Ruins leben, vom | |
| Leben der großen Gesellschaft abgeschottet, ihr letzter Halt ein | |
| hysterischer Pathos. Im Martin-Gropius-Bau ist seit letzter Woche eine | |
| Ausstellung über Pasolini und die Stadt Rom, wie er sie sah und | |
| dokumentierte, zu sehen. Einer der kuratorischen Einfälle war es, Orte, an | |
| denen Pasolini lebte und drehte, so zu zeigen, wie sie jetzt aussehen. | |
| Beispielsweise Eur – das Viertel, in dem „Große Vögel, kleine Vögel“ 1… | |
| gedreht wurde. | |
| Man sieht das neue Stadion des Viertels, im Hintergrund den faschistischen | |
| „Palast der italienischen Zivilisation“, die Kuppel von Sankt Peter und | |
| Paul, davor die Autobahn. Hinter dieser Videowand geht man in den nächsten | |
| Raum und sieht einen Ausschnitt aus „Große Vögel, kleine Vögel“, in dem | |
| Vater und Sohn auf der noch nicht fertiggestellten Autobahn spazieren | |
| gehen. Es ist die Szene, in der sie auf den sprechenden Raben treffen, der | |
| aus dem „Land der Ideologie“ stammt und der sie mit Fragen und Kommentaren | |
| zu ihrem jämmerlichen Kleinbürgerleben, zum Kapitalismus, zu Gott und der | |
| Philosophie löchert. „Der Weg hat gerade angefangen und die Reise ist schon | |
| zu Ende“ sagt der Rabe zum Schluss. Er hat die beiden so sehr genervt, dass | |
| sie ihm den Hals umdrehen und aufessen. | |
| Manchmal wäre auch ich gern so ein Rabe, der den Berlinern vor den Füßen | |
| rumstolpert und ihnen die jämmerlichen Zustände ihrer Stadt aufzeigt. Da | |
| ich aber nicht den Hals umgedreht haben und aufgegessen werden will, | |
| wünsche ich mir lieber einen Filmemacher, der die Kulissen Berlins so | |
| verfilmt, dass sie nicht arm, aber sexy aussehen – sondern so wie sie nun | |
| mal sind – krass. | |
| 21 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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