| # taz.de -- Ausstellung über Filmemacher Pasolini: Aufbruch am Schildkrötenbr… | |
| > Er stand 33-mal stand unter Anklage und war dem Subproletariat zugetan: | |
| > Im Berliner Gropius Bau ist nun die Ausstellung „Pasolini Roma“ zu sehen. | |
| Bild: Die Liebe zum Detail überwältigte die Kuratoren hier und da: Gesamtscha… | |
| Zwischen dem Ponte Sisto und der Tiber-Insel erstreckt sich ein Stück | |
| dörflichen Tibers. Links das Ghetto, das plötzlich beginnt, aus voller | |
| Kehle zu singen, auf der Piazza delle Tartarughe, am Theater des Marcellus, | |
| auf der Piazza Campitelli; und rechts der mütterliche Wald von Trastevere | |
| (aus: „Ali mit den blauen Augen“). | |
| Zeilen, geschrieben von Pier Paolo Pasolini über Rom. Mit der Stadt pflegte | |
| er eine Beziehung voller Liebe und Hass. Eine Beziehung voller Gegensätze. | |
| Der 28 Jahre alte Pasolini nahm mit seiner Mutter den Zug nach Rom, am 28. | |
| Januar 1950. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1975 der Stadt mehr oder | |
| weniger treu. | |
| Der Berliner Martin-Gropius-Bau widmet mit „Pasolini Roma“ dem Filmemacher, | |
| Essayisten, Schriftsteller, Maler und Poeten eine Gesamtschau, | |
| chronologisch gegliedert in sechs Phasen seiner Zeit in Rom. Sie beginnt | |
| mit der Zugankunft am Bahnhof Termini und einem großen Replikat des | |
| Schildkrötenbrunnens. | |
| Pasolini zieht mit seinen Eltern in die Via Tagliere 3, in ein Haus ohne | |
| Dach und Verputz, in ein Ghetto, neben dem Gefängnis Rebibbia. Ein paar | |
| Straßen entfernt liegt der Schildkrötenbrunnen. Tagsüber arbeitet er als | |
| Lehrer, nachts entdeckt er die subproleteraische Erotik der Borgate, der | |
| Arbeitersiedlungen an der Peripherie Roms. Von Casarsa, dem Heimatdorf | |
| seiner Mutter in Norditalien, wurde Pasolini nur enttäuscht – wofür auch | |
| ein Ausschluss aus dem PCI, der italienischen kommunistischen Partei, wegen | |
| moralischer Verwerfungen verantwortlich war. In Rom kann er sich ausleben. | |
| Vor allem begriff ich durch Gramsci auf der Ebene der Theorie die Bedeutung | |
| der bäuerlichen Welt für die revolutionäre Perspektive (aus: „Gespräche m… | |
| Pier Paolo Pasolini“). | |
| 1955 veröffentlicht Pasolini seinen Roman „Ragazzi di vita“ und verhandelt | |
| darin die Lebensgeschichten von Riccetto und seinen Freunden aus der | |
| römischen Unterwelt, die zu Streunern, Strichern und Dieben werden. Er | |
| führt den „Romanesco“, den römischen Dialekt, in die italienische Literat… | |
| ein und wird Teil der der italienischen Intellektuellen. Als 1958 Papst | |
| Pius XII. stirbt, schreibt Pasolini das Epigramm „An einen Papst“. | |
| Im Gropiusbau hängt es groß aufgezogenen, neben Pasolinis Gedicht | |
| „Marilyn“. Eine Manifestation der Kontraste seines Leben. Und ein paar | |
| Schritte weiter das nächste Replikat: Das Grab von Antonio Gramsci, dem | |
| Mitbegründer des PCI. Aus dem Hintergrund ertönt Pasolinis Gedicht | |
| „Gramscis Asche“ in seiner sonoren Stimmen . Ähnlich wie Pasolini hatte | |
| auch Gramsci eine schwierige Beziehung zur dogmatischen Linie der PCI. | |
| Dies ist der erste solche Brief, den ich schreibe, vielleicht, weil ich | |
| mich in diesen Tagen verliebt habe; oder weil ich eine nervöse Gastritis | |
| habe (nie abgeschickter Brief an Ennio Flaiano). | |
| 1961 dreht Pasolini seinen ersten Film: „Accattone – Wer nie sein Brot mit | |
| Tränen aß“. Pasolini ist 39 Jahre alt und fasziniert von einer | |
| Bildsprachen, die so real und nah ist. Die Produktion des Films ist | |
| schwierig, Fellini gibt ihm als Produzent eine Absage. Gekränkt reist | |
| Pasolini nach Indien und Afrika, bevor ihm Alfredo Bini als Produzent die | |
| Dreharbeiten ermöglicht. Pasolini, der filmische Autodidakt, setzt sich | |
| weiterhin mit dem römischen Subproletariat auseinander, das er zuvor in | |
| seinen Romanen beschrieb, besonders in der Rom-Triologie („Accattone“, | |
| „Mamma Roma“ und „La Ricotta“). Und Pasolini schafft es, die Schauspiel… | |
| Anna Magnani für die Rolle der Prostituierten in „Mamma Roma“ zu bekommen. | |
| Durch ein nachgebautes Fenster kann das Publikum in der Ausstellung Szenen | |
| aus dem Film sehen, und es kann hören, wie Magnani und Pasolini über eine | |
| Szene diskutieren. Magnani, deren Darstellung auf einer Nachahmung der | |
| Realität ruht, trifft auf Pasolinis Liebe zur Ikonografie. | |
| Und Pasolini lernt in dieser Epoche seines Lebens, wie an den zahlreichen | |
| Fotos erkennbar wird, die Liebe seines Lebens kennen: den Schreinerlehrling | |
| Ninetto Davoli, einen jungen Kerl aus den Borgate, der später in | |
| „Uccellacci e uccellini“ neben dem großen italienischem Komiker Totò | |
| spielen wird. Es ist auch die Zeit, in der Pasolini für seinen Film „La | |
| Ricotta“ angezeigt wird. Später in der Ausstellung wird eine große Tabelle | |
| zeigen, wie oft und warum Pasolini verurteilt wurde: So stand er zwischen | |
| 1949 und 1977 – also noch zwei Jahre nach seinem Tod – insgesamt 33 Mal | |
| unter Anklage. | |
| Verrückt! Wie vergeblich sie samt ihren Söhnen sich zum Wohlstand hin | |
| dienten, verfettet Sklaven der geizigen Geldmacher im Norden (aus: „Gedicht | |
| in Form einer Rose“). | |
| Anfang 1963 kauft Pasolini ein großes Apartment in der Via Eufrate 9, in | |
| einem noblen und ruhigen Wohnviertel. Er beginnt sich langsam von Rom zu | |
| distanzieren und reist öfter in den Süden Italiens, wo er „Il Vangelo | |
| secondo Matteo“ dreht. | |
| Im Gropius-Bau hängen Fotografien der Gesichter von „Il Vangelo secondo | |
| Matteo“, unter ihnen auch Philippus, gespielt vom italienischen Philosophen | |
| Giorgio Agamben. Und Pasolini dreht noch einen Film in dieser Zeit, eine | |
| Dokumentation: In „Comizi d’amore“ fährt er mit dem Auto und Mikrofon in | |
| der Hand durch Italien und befragt Passanten zur Sexualität. Er möchte die | |
| Entweihung sexueller Tabus ergründen: „Wo endet die Normalität sexueller | |
| Beziehungen und beginnt die Abnormität?“ Pasolini selbst schrieb in den | |
| „Freibeuterschriften“: „Die Vorstellung vom absoluten Vorrang des Normalen | |
| ist geradezu kriminell.“ Das veranlasst den Philosophen Michel Foucault | |
| 1977, einen Text zum Film zu veröffentlichen. | |
| Dein Bürgertum ist ein Bürgertum von VERRÜCKTEN, mein Bürgertum von | |
| IDIOTEN. Du lehnst dich gegen Verrücktheit mit Verrücktheit auf (indem du | |
| Polizisten Blumen gibst): aber wie sich gegen IDIOTIE auflehnen (aus einem | |
| Brief an Allen Ginsberg). | |
| Pasolini entfremdet sich weiter von Rom. Er spürt auch im Subproletariat | |
| die destruktive Auswirkung der Konsumgesellschaft – schuld ist vor allem | |
| das Fernsehen. 1968, während der Studentenrevolten, löst sein Gedicht „Der | |
| PCI an die Jugend!!“ einen Skandal aus: Pasolini sieht sich selbst eher auf | |
| der Seite der Polizisten, weil sie die Söhne von Bauern seien und keine | |
| Möglichkeit hätten, einer anderen Arbeit nachzugehen. Enttäuscht von | |
| Italien, reist Pasolini nach New York und dreht bei seiner Rückkehr | |
| „Teorema“. Dieses Mal konzentriert er sich nicht auf das römische | |
| Subproletariat, sondern rechnet mit der italienischen Borghesia ab. | |
| Natürlich ist Sex Politik. Alles ist Politik (Pasolini in seinem letzten | |
| Interview). | |
| Pasolini dreht seine „Trilogie des Lebens“. Er will die Unschuld des | |
| einfachen Volkes wiedererwecken. Doch nach der Fertigstellung der Filme | |
| („Il Decamerone“, „I racconti di Canterbury“, „Il fiore delle mille e… | |
| notte“) distanziert er sich sofort in einer „Abschwörung“. | |
| Die Ausstellung zeigt Szenen aus den Filmen und druckt die „Abschwörung“ | |
| groß ab. Pasolini kauft zwei Häuser, eins zum Malen und Schreiben, das | |
| andere mit Blick auf das Meer. Die großen beiden Arbeiten in dieser | |
| Lebensphase sind sein unvollendetes Buch „Petrolio“ und sein Film „Salò o | |
| le 120 giornate di Sodoma“, der so schmerzhaft und schockierend ist, dass | |
| Pasolini Morddrohungen erhält, sein Rohmaterial gestohlen wird und der | |
| politische Druck auf ihn wächst. Am 2. November 1975 wird die brutal | |
| zugerichtete Leiche Pasolinis am Hafen von Ostia aufgefunden. Die genauen | |
| Umstände seine Tods sind nach wie vor nebulös und werden immer noch | |
| diskutiert, aktuell in Abel Ferraras Spielfilm „Pasolini“. | |
| Der Parcours durch die Ausstellung endet mit Filmaufnahmen vom Meer sowie | |
| mit einer großen Wand im Flur – losgelöst von allem anderen – voller Fakt… | |
| und Fragen zum Tode Pasolinis. „Pasolini Roma“, eine von einem | |
| internationalen Team kuratierte Ausstellung, gibt einen großzügigen, | |
| liebevoll-detaillierten Überblick über das Schaffen eines großen | |
| italienischen Künstlers. Das Publikum bewegt sich durch die Etappen von | |
| Pasolinis Leben, mit Stadtplänen und Szenen aus dem Filmwerk. Das Kino | |
| Arsenal begleitet die Ausstellung mit einer umfassenden Retrospektive. | |
| Die Liebe zum Detail überwältigte die Kuratoren hier und da: die Replikate, | |
| das Exponat des Fiat 1110, mit dem Pasolini in „Comizi d’amore“ durch | |
| Italien reist, die Olivetti-Schreibmaschine. Alles Gegenstände, die wenig | |
| über Pasolini aussagen. Die Mappen, die Fotos, die Texte, die Briefe, die | |
| Filmausschnitte, die Interviews: Darin zeigen sich die wahre Kraft | |
| Pasolinis, der Geist und die Stimme eines großen Kritikers, der scharf die | |
| Lage Italiens analysierte, das Subproletariat liebte und nie still stand. | |
| Wir haben einen Menschen verloren, weitaus mutiger als viele seiner | |
| Mitbürger und Zeitgenossen (Grabrede von Alberto Moravia). | |
| 25 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Enrico Ippolito | |
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