| # taz.de -- Debatte Referendum in Schottland: Eine Frage der Demografie | |
| > Geschickt hat der britische Premier Cameron die Schotten ausgetrickst. | |
| > Gerade für die Jüngeren ist die Frage der Abspaltung deshalb noch nicht | |
| > abgehakt. | |
| Bild: Unabhängigkeitsträume vorbei? Wohl nicht für immer. | |
| Bereits am Freitagmorgen dämmerte es vielen Schotten, dass sie wieder mal | |
| hereingelegt worden waren. Vor dem Referendum über Schottlands | |
| Unabhängigkeit am Donnerstag versprachen die Parteichefs der Tories, | |
| Liberaldemokraten und der Labour Party vollmundig „devo max“ – also die | |
| größtmögliche Übertragung der Macht auf das Regionalparlament in Edinburgh. | |
| Deshalb sagten 55 Prozent der Schotten Nein zur Unabhängigkeit. | |
| Prompt modifizierte der britische Premierminister David Cameron seine | |
| Zusage: Weitere Selbstbestimmungsrechte für Schottland kämen nur im Rahmen | |
| einer Reform des Wahlsystems in Westminster infrage. Wenn die Schotten mehr | |
| Macht wollen, sollen ihre Unterhaus-Abgeordneten nicht mehr bei Themen | |
| mitreden dürfen, die England betreffen. | |
| Damit hat Cameron die schottische Debatte flugs zu einem britischen | |
| Wahlkampfthema gegen die Labour Party umgebogen. Labour-Chef Ed Miliband | |
| kann diesen Vorschlag nicht annehmen, das weiß auch Cameron. Sollte Labour | |
| überhaupt die britischen Parlamentswahlen im Mai gewinnen, dann nur knapp – | |
| darauf deuten jedenfalls die Meinungsumfragen hin. In dem Fall wäre die | |
| Partei im Unterhaus auf ihre schottischen und walisischen Abgeordneten | |
| angewiesen. Dürften die bei englischen Themen nicht mehr mitstimmen, könnte | |
| Miliband sein Kabinett auf einen Außen- und einen Verteidigungsminister | |
| beschränken. Alle anderen Bereiche würden entweder von den | |
| Regionalparlamenten in Edinburgh, Cardiff und Belfast entschieden oder – | |
| bei englischen Themen – von den Tories, die im Unterhaus die Mehrheit | |
| hätten. | |
| Wie soll man jetzt noch eine Übereinkunft finden zwischen den verschiedenen | |
| Protagonisten, die allesamt völlig unterschiedliche Interessen haben? | |
| Immerhin geht es ja um das Fortbestehen des Vereinigten Königreichs und die | |
| Form, die es haben soll. Der Streit zwischen Cameron und Miliband | |
| dominierte am Wochenende die Berichterstattung, Schottland war da längst in | |
| den Hintergrund getreten. Miliband monierte, dass Cameron es riskiere, die | |
| „Koalition für das Vereinigte Königreich“, die das Referendum in Schottla… | |
| gewonnen hatte, geradewegs wieder zu zerstören. | |
| ## Ressentiments gegen Schotten | |
| Es ist erbärmlich, wie schnell Cameron vor seinen rechten Hinterbänklern | |
| eingeknickt ist. Die wiederum treibt die Angst vor dem Rechtsaußen Nigel | |
| Farage von der United Kingdom Independence Party (Ukip). Der bestimmt nun | |
| die Agenda, denn er schürt die englischen Ressentiments gegen weitere | |
| Selbstbestimmungsrechte und mehr Geld für die Schotten. | |
| Cameron agiert, als ob es das Recht der Tories wäre, die (ungeschriebene) | |
| britische Verfassung nach eigenem Gutdünken zurechtzubiegen und den Staat | |
| im Interesse einer einzigen Partei zu organisieren. Für die Absicht, sein | |
| Versprechen an die Schotten plötzlich mit der Bedingung zu verknüpfen, dass | |
| die schottischen Unterhausabgeordneten zu Parlamentarieren zweiter Klasse | |
| degradiert werden, gibt es einen Begriff: Gerrymandering. | |
| Der Name kommt von Elridge Gerry, dem ehemaligen Gouverneur von | |
| Massachusetts, der 1812 die Wahlkreise in einer Weise einteilte, die einem | |
| Wahlbetrug gleichkam. Der Wahlkreis Essex im Nordosten des | |
| US-amerikanischen Staates sah schließlich wie ein Salamander aus, deshalb | |
| hieß Gerrys Gaunertrick zunächst „Salamandering“. Das geprellte Stimmvieh | |
| meinte jedoch, dass dem Gouverneur für diese Unverschämtheit ein Denkmal | |
| gesetzt werden müsse, und fortan hieß eine solche Praxis Gerrymandering. | |
| Der „Liebesbrief“ von 215 prominenten Engländern, der die Schotten zum | |
| Verbleib im Vereinigten Königreich bewegen sollte, war ebenfalls eine | |
| zynische und egoistische Aktion. Der Brief ist von Dan Snow initiiert | |
| worden, dessen Stiefvater fast 400 Quadratkilometer Land in Schottland | |
| besitzt. Camerons Stiefschwiegervater besitzt ebenfalls große Ländereien in | |
| Schottland. Keiner der Unterzeichner hatte sich früher um Schottland | |
| gekümmert. | |
| ## Das Problem von Labour | |
| Die Labour Party hat sich mit ihrem Engagement gegen die Unabhängigkeit | |
| keinen Gefallen getan. Sie hat sich vor Camerons Karren spannen lassen, | |
| weil die Tories in Schottland so verhasst sind, dass eine Einmischung der | |
| Ja-Seite Zulauf verschafft hätte. Nun steht man da wie ein begossener | |
| Pudel. Es fällt auch auf Labour zurück, dass die Zusagen nicht eingehalten | |
| werden. Darüber hinaus macht es bei den englischen Wählern einen schlechten | |
| Eindruck, wenn die Partei gegen englisches Selbstbestimmungsrecht | |
| argumentiert. Das hat Cameron glänzend hinbekommen. | |
| Doch dieser „föderale Ansatz“ kann nicht funktionieren, wenn ein Teil 85 | |
| Prozent des Landes ausmacht und die restlichen 15 Prozent auf die anderen | |
| drei Teile verteilt sind, zumal ja England keine homogene Einheit, sondern | |
| ein extrem zentralisierter Staat ist: Es gibt London und den reichen | |
| Südosten, und es gibt den durch Deindustrialisierung, Privatisierung und | |
| niedrige Löhne gebeutelten Norden. | |
| Die Anhänger der schottischen Unabhängigkeit haben zwar das Referendum | |
| verloren, aber dank Camerons Taktiererei ist das Thema keineswegs „für eine | |
| Generation abgehakt“, wie sich der britische Premierminister zunächst | |
| gefreut hatte. | |
| ## Tausende treten der SNP bei | |
| Es ist einerseits eine demografische Frage, denn die Generation über 65 hat | |
| mit deutlicher Mehrheit gegen die Unabhängigkeit gestimmt, doch darüber | |
| hinaus hat die SNP (Scottish National Party) – früher eine kleine | |
| nationalistische Partei – es geschafft, zu einem Sammelbecken progressiver | |
| Kräfte zu werden und auch Immigranten anzulocken. Das ist Labour schon | |
| lange nicht mehr gelungen. | |
| Nach dem Referendum schoss die Mitgliederzahl der SNP in die Höhe: Am | |
| Wochenende traten fast 10.000 neue Mitglieder in die Partei ein, insgesamt | |
| sind es nun gut 35.000. Auch die Grünen und die Socialist Party, die | |
| ebenfalls für die Unabhängigkeit eintraten, verzeichneten erheblichen | |
| Zulauf. Das Interesse an Politik und der Wunsch nach Unabhängigkeit sind | |
| also keineswegs abgeebbt – im Gegenteil. Wenn morgen noch mal gewählt | |
| würde, ginge das Referendum dank der gebrochenen Versprechen durch. | |
| 23 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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