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# taz.de -- Politologe über Proteste in Hongkong: „Ich erwarte das Anaconda-…
> Der Politologe und Meinungsforscher Michael DeGolyer vom „Hong Kong
> Transition Project“ über die Ursachen und Perspektiven der
> Demokratieproteste.
Bild: „Hongkong ist hochgradig abhängig von China“: Demonstranten in Hongk…
taz: Das von Ihnen geleitete „Hong Kong Transition Project“ analysiert die
Entwicklungen in der Stadt seit 1982. Hat Sie das Ausmaß der gegenwärtigen
Proteste überrrascht?
Michael DeGolyer: Nein, überhaupt nicht. Schon in unserem Bericht vor neun
Monaten haben wir festgestellt, dass es sehr starke Reaktionen geben wird,
wenn die Menschen feststellen, dass ihre Forderungen nach Demokratie weiter
ignoriert werden. Diese Proteste dürften Hongkongs Wirtschaft schaden.
Genau dies erleben wir jetzt.
Benny Tai, Gründer der Protestgruppe Occupty Central, zeigte sich aber
selbst erstaunt über die hohe Teilnehmerzahl.
Vor neun Monaten ergab unsere Analyse, dass bei fortgesetzter Spaltung von
Hongkongs Demokratiebewegung die radikale Fraktion von etwa 20 Prozent der
Bevölkerung darin unterstützt würde, aktiv zu werden. Ist die
Demokratiebewegung geeint, steigt dies auf etwa 35 Prozent. Sollte Peking
hart intervenieren – dazu zählt der brutale Tränengasangriff vom letzten
Sonntag –, steigt die Unterstützung auf über 40 Prozent. Deshalb haben wir
nun den größtmöglichen vorausgesagten Protest.
Der Konflikt geht um die Nominierung künftiger Kandidaten für den Posten
des Hongkonger Regierungschefs. Gibt es auch soziale Ursachen?
Ja, sie sind der Brandbeschleuniger. Laut Volkszählung verdienen heute gut
ausgebildete Menschen in den späten 20ern und 30ern, also nicht die
heutigen Studenten, real zehn bis 15 Prozent weniger als im Jahr 2000,
obwohl ihr Bildungsniveau weiter gestiegen ist. Das hat viel mit dem
Konkurrenzdruck durch Studenten und Akademiker aus China zu tun. Da
Hongkong eine alternde Gesellschaft ist, aber ein unzureichendes
Rentensystem hat, müssen junge Hongkonger jetzt noch ihre Eltern,
Großeltern oder Urgroßeltern finanziell unterstützen. Das offizielle
Pensionsalter liegt bei 60, Rentenzahlungen beginnen erst mit 65,
dazwischen können sich Arbeitnehmer nicht vor Kündigungen oder
Lohnkürzungen schützen. Deshalb ist die familiäre Unterstützung sehr
wichtig. Nach unseren Umfragen betrifft dies die Hälfte der Bevölkerung.
Warum demonstieren denn so viele ganz junge Menschen, etwa Oberschüler?
Jetzt demonstriert eine Kombination von zwei Gruppen, also Schüler, die
einfach nur Gehör finden wollen, und ihre älteren Brüder und Schwestern,
die bereits studieren oder schon studiert haben.
Manche nennen die Demonstranten naiv, weil Peking nie nachgeben werde. Wie
groß sind ihre realen Chancen, etwas zu verändern?
Sie sind naiv, denn sie haben keinerlei Verständnis für die Denkweise der
chinesischen Machthaber. Die sind heute in den 50ern, 60ern und frühen
70ern. Sie sind in der Kulturrevolution groß geworden, basierend auf Mao
und seinen Roten Garden. Deren damaliger Populismus hat China kaputt
gemacht, während später die Zurückweisung von Maos Populismus China zur
bald größten Wirtschaftsmacht verwandelt hat. Die Kulturrevolution zielte
auf Beamte und Kader, die das als Säuberung wahrnahmen. Deshalb haben die
heutigen Machthaber große Angst, dass Populismus wieder die Oberhand
gewinnt. Wenn jetzt also in Chinas reichster Stadt Forderungen nach
populären Wahlen erhoben werden und diese ermöglichen, dass Populisten dort
Macht gewinnen, ist das für die KP-Führer schon aus ihrer eigenen
Geschichte heraus besorgniserregend.
Es sieht jetzt so aus, als würde Hongkongs Regierung auf Zeit spielen und
die Proteste aussitzen wollen, bis die Zahl der Demonstranten abnimmt und
die Bevölkerung sich gegen die verbleibenden wendet.
Peking schickt jetzt schon keine Tourgruppen mehr nach Hongkong. Hongkongs
Tourismussektor ist klein, was seinen Anteil am Bruttosozialprodukt
betrifft, sehr groß im Hinblick auf die Zahl der Beschäftigten. Mit wenig
gesamtwirtschaftlichem Schaden gibt es also jetzt schon eine große Wirkung.
Schritt für Schritt werden weitere solcher Maßnahmen folgen. Es dürften
schon nächste Woche die ersten ihre Arbeit verlieren. Viele Chinesen und
ihre Firmen haben Konten in Hongkong. Ich erwarte einen Abfluss an
Hongkong-Dollar. Das wird der Geschäftswelt zeigen, wohin die Reise geht.
Wir werden erleben, wie sich die öffentliche Meinung gegen die Studenten
wendet und sie isoliert werden. Dann werden vielleicht noch einzelne Leute
festgenommen und damit die Kosten für die Demonstranten erhöht. Weil das
eine langsame Strangulierung der Protestbewegung bedeutet, spreche ich vom
„Anaconda-Szenario“.
Welche Optionen haben die Demonstranten jetzt?
Sie haben nur die Option, einen Rückzieher zu machen, was extrem schwierig
ist, oder sich bei einer Eskalation weiter in eine Ecke zu manövrieren.
Sollten die Demonstranten wie angedroht Regierungsbüros besetzen, könnte
die Regierung sie einfach gewähren und damit auch ins Leere laufen lassen
und damit frustrieren. Je extremer ihre Maßnahmen werden, desto stärker
werden die Demonstranten an Unterstützung verlieren.
Die Zeit arbeitet gegen die Demonstranten?
Ja. Es deutet sich schon an, dass Menschen dazu auffordern, andere Wege zu
suchen, da die Regierung nicht wie gefordert reagiert. Sollte es jetzt noch
zu Gewalt kommen, werden die Demonstranten schnell an Unterstützung
verlieren. Bis zum Wochenende dürften die Studenten die Unterstützung
anderer Bevölkerungsgruppen haben, doch danach wird es kritisch. Steigt die
Zahl der Arbeitslosen, werden diese sowie jene, die sich um ihre Jobs
sorgen, dazu drängen, die Proteste zu beenden.
Steht Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping nicht als schwach da, wenn
sich die Proteste in Hongkong wochenlang hinziehen?
Das hängt davon ab, ob die Proteste wachsen oder nicht. Die Lehre aus
anderen Ländern wie auch aus China und Hongkong selbst ist doch, dass
Gewalt erstmal Proteste anfacht. Am besten ist also, darauf zu setzen, dass
sie sich totlaufen. Hongkong bietet da mit der Occupy-Bewegung ein
Beispiel. Deren Proteste dauerten länger als in New York, aber endeten
damit, dass nach fast einem Jahr des Protestcamps im Durchgang der
HSBC-Bank sich fast niemand mehr dafür interessierte, als es dann geräumt
wurde. Ich erwarte, dass versucht wird, die Demonstranten von der Straße
runterzubekommen und sie in einem Park protestieren zu lassen. Dort können
sie dann bleiben so lange sie wollen.
Sehen Sie einen möglichen Kompromiss - etwa einen Rücktritt von
Regierungschef Leung Chun Ying?
Chinas Regierung macht keine Kompromisse unter Druck. Vielleicht ist ein
Kompromiss möglich, wenn die Proteste beendet sind, aber jetzt nicht.
Regierungschef Leung tritt nur zurück, wenn das hier alles vorbei ist. 2003
hatten wir hier schon größere Proteste. Der damalige Regierungschef trat
erst mehr als ein Jahr später zurück.
Wie groß ist die Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen?
Die ist sehr real. Kommt es zu Gewalt, passiert das überraschend, weil
diejenigen, die das machen, ihre Vorbereitungen dazu verbergen. Der Einsatz
von Gewalt ist das unvorhersehbarste Szenario.
Wer neigt eher zu Gewalt, die Studenten oder Provokateure von
Regierungsseite?
Beide, Studenten oder Provkateure können Reaktionen von Leuten auslösen,
die nicht zu Ende gedacht haben. Sollten die Proteste nicht abnehmen und
vielmehr auf Chinas Festland überspringen, wird Gewalt wahrscheinlicher
Wie wahrscheinlich ist, dass China gezielt Gewalt in Hongkong einsetzt?
Ich halte das für unwahrscheinlich, weil es auch ohne geht. Hongkong ist
hochgradig abhängig von China. So bekommt Hongkong 80 Prozent seines
Wassers vom Festland. Kappt China etwa die Wasser-, Nahrungsmittel- oder
Elektrizitätszufuhr, wird sofort klar, wie schwach Hongkongs Position ist.
Es wird nicht lange dauern, bis die Hongkonger darum betteln, dass China
sie zurücknimmt.
2 Oct 2014
## AUTOREN
Sven Hansen
## TAGS
Hongkong
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