# taz.de -- Dschihadistische Jugendliche: Dann war ihr Junge plötzlich weg | |
> Die Bundesregierung lobt Projekte, die Jugendliche vor der Verlockung des | |
> IS schützen sollen. Sie knausert aber beim Geld für Mitarbeiterstellen. | |
Bild: Sicherheitspolitik allein wird das Problem nicht lösen: Polizeieinsatz g… | |
BERLIN taz | Erst als ihr Sohn plötzlich verschwunden war, griff die Mutter | |
zum Telefon. Schon lange hatte sie Veränderungen bei dem 16-Jährigen | |
beobachtet. Erst war Marcel, wie er hier heißen soll, zum Islam | |
konvertiert, dann nahm er die Bilder in seinem Zimmer von der Wand. | |
Immer häufiger schaute er sich islamistische Websites im Internet an, auch | |
Propagandavideos aus Syrien. Er zog sich von seinen Freunden zurück, mit | |
der Mutter gab es immer mehr Streit. Auch deren Ex-Mann, Marcels Vater, kam | |
nicht mehr an den Jungen ran. | |
Dann war Marcel weg. Die Eltern befürchteten, er könne nach Syrien | |
ausgereist sein. Die Mutter rief bei einer Hotline an, deren Nummer sie im | |
Internet gefunden hatte. Sie landete beim Violence Prevention Network | |
(VPN). „Seitdem betreuen wir diese Familie“, sagt Thomas Mücke, | |
Geschäftsführer bei VPN, der die Geschichte des Jungen leicht abgewandelt | |
erzählt, damit sie nicht rekonstruierbar ist. „Wir beraten die Eltern und | |
versuchen – wenn der Sohn wirklich ausgereist ist – ihn gemeinsam mit den | |
Eltern zurückzuholen.“ | |
Deradikalisierungsarbeit heißt das im Fachjargon. Das Ziel: Jugendliche von | |
extremistischer Ideologie und Gewaltbereitschaft abzubringen und sie wieder | |
„ins normale Leben“ zu führen, wie Mücke es nennt. Um diese Arbeit geht es | |
selten, wenn dieser Tage über den Umgang mit deutschen Dschihadisten | |
debattiert wird. Von 450 Ausreisen aus Deutschland nach Syrien weiß der | |
Verfassungsschutz, 125 davon sollen bereits zurückgekehrt sein, 25 davon | |
„mit erwiesener Kampferfahrung“. | |
Justizminister Heiko Maas (SPD) hat angekündigt, die versuchte Ausreise mit | |
dem Ziel, sich an schweren Gewalttaten im Ausland zu beteiligen, unter | |
Strafe stellen und einen Straftatbestand „Terrorismusfinanzierung“ | |
einzuführen. Die Innenminister haben sich darauf verständigt, den Entzug | |
des Personalausweises zu ermöglichen, um Ausreisen zu verhindern. Und der | |
Union geht das alles nicht weit genug. Sie will auch an die | |
Staatsbürgerschaften der Dschihadisten ran. Doch alle wissen: | |
Sicherheitspolitik allein wird das Problem nicht lösen. Marcel, laut Mücke | |
„ein ganz typischer Fall“, meldete sich per Handy aus Syrien. Er hatte | |
Kämpfe miterlebt, erzählte er seiner Mutter. Er war fix und fertig und | |
wollte wieder zurück. „Aber da rauszukommen, ist gar nicht so leicht“, sagt | |
Mücke. Marcel floh in die Türkei, die Eltern holten ihn dort ab. „Wir haben | |
jeden einzelnen Schritt gemeinsam mit den Eltern geplant.“ Inzwischen | |
arbeiten seine Kollegen auch mit Marcel selbst. | |
## „Mit Anfragen überflutet“ | |
VPN betreibt eine von vier Beratungsstellen, die beim Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge angesiedelt sind und vom Innenministerium bezahlt | |
werden. Das Amt übernimmt nur die Kosten eines einzigen VPN-Mitarbeiters | |
für dieses Projekt, der in Frankfurt am Main angesiedelt ist. Er ist für | |
den ganzen Südwesten der Republik zuständig: Bayern, Baden-Württemberg, | |
Hessen und Rheinland-Pfalz. | |
„Wir werden mit Anfragen überflutet“, sagt Mücke. Insgesamt 96 Fälle wer… | |
von Frankfurt aus betreut. An einem Tag habe es jüngst fünf neue Anfragen | |
gegeben. „Dann muss man sofort handeln“, sagt Mücke und betont, die mühsam | |
und langwierig diese Arbeit sei. Soll heißen: Ein Mitarbeiter reicht bei | |
Weitem nicht. | |
VPN arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit radikalisierten Jugendlichen, | |
angefangen hat der Verein mit Rechtsextremen in Brandenburger | |
Haftanstalten. Aufgrund der langen Erfahrung hat das Land Hessen VPN zum | |
Projektpartner seines „Präventionsnetzwerk gegen Salafismus“ gemacht, das | |
erste landesweite Netzwerk der Republik. Es soll alles bieten: von | |
Workshops zur Toleranz- und Demokratieentwicklung in ganz normalen | |
Schulklassen bis zu einem Aussteigerprogramm für inhaftierte Rückkehrer aus | |
Syrien. Von Erfahrungen aus dieser Arbeit kann Mücke, der selbst als | |
Streetworker in der Westberliner Skinheadszene begann, noch nicht | |
berichten. Das Netzwerk hat erst im Juli die Arbeit aufgenommen. | |
Viel zu spät, findet der Sozialpädagoge. „Vieles, was an Prävention und | |
Deradikalisierung möglich ist, wurde Jahre lang nicht genutzt.“ Es gebe zu | |
wenige Projekte. Selbst bei erfolgreichen Vereinen sei die Finanzierung | |
stets unsicher. Derzeit hoffen viele auf das neue Bundesprogramm gegen | |
Extremismus aus dem Familienministerium, das seine Mittel gerade vergibt. | |
Auch VPN hat für sein Projekt, das in zehn Haftanstalten mit | |
radikalisierten Jugendlichen arbeitet, bislang keine Förderung über 2014 | |
hinaus. Ändert sich das nicht, läuft diese Arbeit Ende des Jahres aus. | |
Dabei hatte selbst der heutige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) das | |
Projekt gelobt, als er noch Innenminister war, und gefordert, es „in die | |
Breite zu tragen“. | |
24 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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