# taz.de -- SPD in Thüringen: Mekka vorübergehend geschlossen | |
> Nach der Wende wollten viele SPDler von der SED nichts mehr wissen. | |
> Wählen sie jetzt in Thüringen einen linken Ministerpräsidenten? | |
Bild: Die Vorsitzende des SPD-Kreisverbandes Eisenach, Heidrun Sachse. | |
EISENACH taz | Als der Genosse fertig ist, fällt auch Heidrun Sachse nichts | |
mehr ein. Im Grunde ist sie Optimistin, anders hätte sie in dieser Partei | |
schon lange keinen Spaß mehr. Aber jetzt sitzt da dieser Mann, seit 24 | |
Jahren Kreisrat im Wartburgkreis, Hundezüchter, ein Kreuz wie Herbert | |
Wehner, und soeben hat er gestanden, dass er nicht mehr schlafen kann. Jede | |
Nacht liegt der 58-Jährige zwei Stunden wach und denkt an die SPD: „Uns | |
bricht die Basis weg, wir entlassen Mitarbeiter, und den Goldenen Löwen | |
müssen wir auch bald dichtmachen.“ | |
Heidrun Sachse könnte ihn aufmuntern. „Och ja“, könnte die Vorsitzende des | |
Kreisverbands Eisenach sagen und dann, wie häufig, wenn es um die Misere | |
ihrer Partei geht, von den kleinen Lichtblicken erzählen. Diesmal bleibt | |
sie aber genauso stumm wie ihre 23 Parteifreunde im Raum. Der Hundezüchter | |
hat ja recht: Mit der SPD geht es in Eisenach bergab. Nach dem | |
Zwölfprozentdesaster bei der Landtagswahl steht sie vor einem | |
Scherbenhaufen, wie die Sozialdemokraten in ganz Thüringen. Und | |
Rot-Rot-Grün hin oder her: Über die Lage im Landesverband sorgt sich sogar | |
die Parteispitze im Willy-Brandt-Haus. | |
Im Vorstand gibt es eine einfache Rechnung: In Nord- und Westdeutschland | |
schöpfe die SPD ihr Wählerpotenzial recht ordentlich aus, im Süden gebe es | |
für sie ohnehin nicht viel zu holen, im Osten aber könne sie noch zulegen. | |
Müsse sie sogar, um irgendwann wieder eine Bundestagswahl zu gewinnen. Auf | |
einen Aufwärtstrend weist derzeit aber nichts hin, zumindest nicht in | |
Thüringen und schon gar nicht dort, wo für die SPD alles anfing. | |
Heidrun Sachse und die übrigen Genossen sitzen im dritten Stock des | |
Goldenen Löwen. Sie ist 36 Jahre alt und trat vor zehn Jahren in die Partei | |
ein, weil die SPD damals in Eisenach für den Erhalt des Theaters kämpfte. | |
An Wahlniederlagen hat sie sich seitdem gewöhnt. Eine hat sie sogar den Job | |
gekostet: Sie war Referentin des Eisenacher SPD-Bürgermeisters, bis zu | |
dessen Abwahl. Seitdem arbeitet sie im Wahlkreisbüro der nächsten | |
Bundestagsabgeordneten ihrer Partei. Täglich pendeln, 100 Kilometer hin, | |
100 Kilometer zurück. „Och ja“, sagt Sachse, „ich fahre gerne Auto.“ | |
## August Bebel blickt von der Wand | |
Jetzt diskutiert ihr Kreisverband im dritten Stock über die mögliche | |
Koalition mit Linkspartei und Grünen. Als Gast hat Sachse den neuen Chef | |
der Landtagsfraktion eingeladen, der bei den Sondierungen dabei war und | |
jetzt für Rot-Rot-Grün werben soll. Er sitzt neben Sachse an der Kopfseite | |
des Tisches; hinter ihnen blickt August Bebel von der Wand. | |
Im August 1869 hatte Bebel in den Goldenen Löwen geladen. 370 Sozialisten | |
und Sozialdemokraten reisten nach Eisenach, brüllten und rauften sich | |
zunächst im Festsaal und gründeten, nachdem sie sich beruhigt hatten, die | |
Sozialdemokratische Arbeiterpartei – den Vorläufer der SPD. Inzwischen ist | |
der Goldene Löwe eine Art Wallfahrtsstätte: Willy Brandt war gleich nach | |
der Wende da, Wolfgang Thierse hat sich für diese Woche angemeldet und | |
Sigmar Gabriel hielt im Sommer nur der Tod seiner Mutter von einem Ausflug | |
nach Eisenach ab. Im Gebäude hätte er sonst ein paar Reliquien bestaunen | |
können: Originalbesteck etwa, mit dem Bebel im Goldenen Löwen gegessen | |
haben könnte. Zuvor hätte er allerdings diese Fassade gesehen: Die Farbe | |
blättert ab, das Mekka der Sozialdemokraten bröckelt und für einen Anstrich | |
fehlt das Geld. | |
Vor fünf Jahren stellte die Eisenacher SPD noch einen | |
Bundestagsabgeordneten und zwei Landtagsabgeordnete. Deren Wahlkreisbüros | |
befanden sich im Erdgeschoss des Goldenen Löwen. Das hatte gleich zwei | |
Vorteile: Werktags waren immer Mitarbeiter da, um Besucher reinzulassen. | |
Und die Abgeordneten zahlten Miete, fünf Euro pro Quadratmeter als Rücklage | |
für Reparaturen. | |
Aber der Bundestagsabgeordnete wurde schon vor fünf Jahren abgewählt und | |
seit der Landtagswahl stehen auch die beiden anderen Büros leer. Mekka ist | |
jetzt nur noch dienstags und donnerstags geöffnet. Und ohne die Mieten | |
decken die Einnahmen gerade die Betriebskosten. 10.000 Euro überweist die | |
Friedrich-Ebert-Stiftung jedes Jahr. „Falls das auch noch wegfällt, müssen | |
wir den Goldenen Löwen schließen“, sagt Sachse. | |
## „Wir wollten 89 doch was völlig anderes!“ | |
Im dritten Stock ist der nächste Genosse an der Reihe, auch er ist seit der | |
Wende in der Partei. Für die Eisenacher sitzt er im Landesparteirat, aber | |
jetzt droht er mit dem Austritt. „Wir wollten 89 doch was völlig anderes! | |
Ein Land ohne SED-Regierung!“, ruft er. Und nun wähle seine Partei | |
womöglich einen linken Ministerpräsidenten? „Ich frage mich, warum ich | |
eigentlich noch in der SPD bin.“ | |
In Thüringen und in Eisenach ist Rot-Rot-Grün eine Generationenfrage. Auf | |
der einen Seite stehen die Spätgeborenen, Sachse und die Jusos, die es mit | |
Ramelow versuchen wollen. Auf der anderen Seite stehen viele der Veteranen, | |
die die SPD 1989 wiedergegründet haben. | |
Wer sie verstehen will, sollte mit Heiko Gentzel reden. Bis zur Wahl saß | |
der 54-Jährige für die Eisenacher SPD im Landtag – ununterbrochen seit | |
1990. Mit den Linken hat er inzwischen seinen Frieden gemacht, aber | |
gedauert hat es auch bei ihm. Lange konnte er nicht verzeihen, dass er | |
Bundestagsdebatten mit Helmut Schmidt einst heimlich im Westfernsehen | |
anschauen musste. | |
Gleich nach der Wende gehörte Gentzel zu den frischgebackenen | |
Sozialdemokraten, die den Goldenen Löwen von der SED übernahmen. Nach der | |
Schlüsselübergabe räumten seine Leute zuerst den Raum mit den | |
Gastgeschenken leer: Ein Wimpel aus Wladiwostok, zig Ehrenwimpel der NVA, | |
Fotobände vom achten Parteitag: alles auf den Müll. „Natürlich kann man | |
heute sagen, man hätte vielleicht das ein oder andere behalten sollen“, | |
sagt Gentzel. Aber damals kannten die Sozis kein Pardon, und das nicht nur | |
mit Wimpeln: Wer vor der Wende in der SED war, musste sich nach der Wende | |
bei der Eisenacher SPD gar nicht erst blicken lassen. Ein neues Parteibuch | |
bekam er auf keinen Fall, selbst wenn er in der DDR nur Mitläufer war. | |
## 25 Jahre nach seiner Gründung hat der Landesverband nur 4.300 Mitglieder | |
Im ersten Wahlkampf waren die Sozialdemokraten dann prompt unterlegen: Die | |
PDS profitierte von ihren alten Strukturen, inklusive hauptamtlicher | |
Sekretärin. Die CDU mobilisierte ihre Mitglieder aus Blockparteizeiten, | |
verteilte auf dem Marktplatz Bananen und holte damit einen fulminanten | |
Wahlsieg. Und die Anfänger von der SPD? Standen daneben und staunten. | |
Bis heute hinkt die Partei hinterher. 25 Jahre nach seiner Gründung hat der | |
Landesverband nur 4.300 Mitglieder und ist im Bund ohne Einfluss. In | |
Eisenach sank die Mitgliederzahl im letzten halben Jahr von 91 auf 84. | |
Wahlkampf ist mit so einem Häufchen noch immer schwer zu machen. | |
Heidrun Sachse kandidierte in diesem Jahr für den Landtag. Von Gentzel, dem | |
24 Jahre schlicht genug waren, hatte sie den Wahlkreis Eisenach II | |
übernommen. Der reicht im Westen bis an die hessische Grenze. | |
In der Fläche zeigt sich der Vorteil einer Volkspartei: Wer in jedem Dorf | |
ein Mitglied hat, muss sich um seine Plakate nicht sorgen. Bekritzelt | |
jemand ein Kandidatenfoto, bekommt die Zentrale am nächsten Tag einen | |
Anruf. In Thüringen ist die SPD aber keine Volkspartei und Sachse konnte | |
sich in diesem Sommer noch so oft ins Auto setzen, gegen CDU und | |
Linkspartei hatte sie keine Chance. | |
Für die Eisenacher SPD wird es nun noch schwieriger: Das Büro einer | |
Abgeordneten funktioniert wie eine Auskunftshotline. Hat ein Wähler eine | |
Frage, wozu auch immer, und fällt ihm kein anderer Ansprechpartner ein, | |
klingelt das Telefon. In Eisenach hat die SPD nun aber keine Nummer mehr. | |
„Das trägt nicht dazu bei, dass wir Hunderte neue Mitglieder bekommen“, | |
sagt Sachse. | |
Ein Teufelskreis: Weniger Mitglieder, weniger Wahlkampf, weniger Stimmen, | |
weniger Abgeordnete, weniger Mitglieder? | |
## Das kleine Wunder von Eisenach | |
Ein wenig Hoffnung hat die Partei dann doch noch: Darauf, dass die SPD als | |
Juniorpartner der Linken eine gute Figur macht. Und darauf, dass sich die | |
neue Fraktion ins Zeug legt. Die zwölf Abgeordneten, so der Plan, sollen | |
Patenschaften für Wahlkreise ohne Mandatsträger übernehmen und sich dort | |
regelmäßig blicken lassen. | |
So wie der neue Fraktionsvorsitzende im Landtag, der im Goldenen Löwen zwei | |
Stunden lang für Rot-Rot-Grün geworben hat und den Kreisverband zum | |
Abschied auf die nächsten Jahre einschwört. Matthias Hey ist sein Name, er | |
ist 44 Jahre alt und wirkt für die Eisenacher SPD beinahe wie ein Messias: | |
In Gotha holte er das Direktmandat, das einzige für die SPD in ganz | |
Thüringen. | |
„Wir zwölf Hanseln im Landtag werden in den nächsten fünf Jahren das | |
einzige Schaufenster der SPD sein“, sagt er jetzt. „Und das mit viel | |
weniger Geld. Wir kündigen Sekretärinnen, die seit zwanzig Jahren dabei | |
sind. Mir tut das weh.“ Dann dämpft er die Stimme, beugt sich ein wenig | |
nach vorne und sagt mit allem Pathos, den ein Thüringer aufbringen kann: | |
„Aber die SPD hat 150 Jahre durchgehalten und mit eurer Hilfe werden wir | |
auch weiter durchhalten!“ | |
Und dann, als die Veranstaltung vorbei ist, geschieht das kleine Wunder von | |
Eisenach. | |
Ein Juso hat seinen jüngeren Bruder mitgebracht, der war schon öfters da. | |
Er kommt jetzt auf Heidrun Sachse zu. „Einmal hast du noch frei“, sagt die | |
Kreisvorsitzende, „dann will ich deinen Mitgliedsantrag sehen.“ Der kleine | |
Bruder grinst, dann sagt er: „Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen.“ | |
30 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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