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# taz.de -- Neues aus dem Berliner „Problembezirk“: Neuköllnploitation
> Bürgermeister Buschkowsky hat ein Buch über Neukölln geschrieben. Doch
> wer den Stadtteil verstehen will, sollte lieber zu einer anderen Lektüre
> greifen.
Bild: BerlinerInnen beim Shopping auf der Karl-Marx-Straße – nicht weit von …
Wenn Heinz Buschkowsky morgens aus seinem Rathausfenster schaut, kann es
passieren, dass er zwei vollverschleierte Frauen erblickt, die ihre
Kinderwagen schieben. Im Vorwort zu seinem neuen Buch „Die andere
Gesellschaft“ beschreibt der Bürgermeister des Berliner Problembezirks
Neukölln diese Szene als „ausgesprochen symbolträchtig“ – als Zeichen
dafür, „dass in den letzten 40 Jahren die übliche Durchmischung der
Bevölkerung etwas aus dem Ruder gelaufen“ sei. Denn Buschkowsky mag keine
Ganzkörperschleier, sie treiben seinen Blutdruck nach oben. Die Szene ist
aber auch bezeichnend dafür, wie Buschkowsky die Welt betrachtet: mit einem
Tunnelblick aus dem Rathausfenster.
In seinem neuen Buch strickt der „Kult-Bürgermeister“ (Bild) wieder fleiß…
mit am medialen Mythos von Berlin-Neukölln als Vorhölle der Republik.
Dieses Image hat der Bezirk ursprünglich der schlagzeilenträchtigen
Skandalisierung seiner realen Probleme zu verdanken. Doch daraus ist längst
ein eigenes publizistisches Genre entstanden, das für vermeintlich
authentischen Ghettogrusel steht: Neuköllnploitation. Bücher wie das
pseudobiografische Porträt „Arabboy“ von der in Neukölln geborenen Autorin
Güner Balci, „Das Ende der Geduld“ der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten
Heisig und Kinofilme wie Detlef Bucks „Knallhart“ haben Neukölln zu einer
Marke gemacht, die Auflage, Quote und Profit verspricht.
Der Neukölln-Mythos war zwar immer nur die halbe Wahrheit, denn der Süden
des Bezirks ist eine langweilige Reihenhaus-Kleinbürgeridylle, die
allenfalls durch ein paar urdeutsche Rechtsradikale gestört wird. Aber die
Geschichten aus Nord-Neukölln, die von arabischen Mafiaclans und von Blut,
Ehre und Gewalt handeln, verkaufen sich einfach besser. Das weiß auch
Buschkowsky, der selbst im Süden wohnt.
Doch wer sich von ihm echte Einblicke in die Abgründe seines Bezirks
erhofft, der wird enttäuscht. Liest man sein neues Buch „Die andere
Gesellschaft“, merkt man eher, wie wenig er eigentlich über sein Viertel
weiß, das er seit immerhin 14 Jahren regiert.
Wie der gute König aus dem Märchen, der sich unters Volk mischt, hat sich
Buschkowsky für sein Buch aufgemacht, seinen Bezirk zu erkunden. Er hat
Sozialarbeiter und Unternehmer mit Zuwanderungsgeschichte in sein Büro
geladen, die wie er finden, dass Hartz IV und Kindergeld manche
Einwandererfamilien zu Bequemlichkeit verführe. Er hat Islamkritiker
aufgesucht, die ihn in seinen Vorurteilen gegen Muslime bekräftigen. Er
traf Mädchen, die bekennen, zu Hause Gewalt erfahren zu haben und von ihren
Brüdern beaufsichtigt zu werden, und er zitiert aus Bewerbungsschreiben,
die zeigen sollen, dass junge Leute aus seinem Bezirk trotz Schulabschluss
kaum die deutsche Sprache beherrschen. So weit, so schlecht.
## Islam als Integrationshindernis
Doch in seiner Analyse der Ursachen für die Misere verheddert sich
Buschkowsky in vielen Widersprüchen. Er zitiert Studien, wonach 20 Prozent
aller türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen in Deutschland schon mal
häusliche Gewalt erfahren haben – was im Umkehrschluss bedeutet, dass 80
Prozent von ihnen ohne Gewalt aufgewachsen sein müssen – und andere, die
besagen, dass „nur ein Drittel der Muslime streng religiös“ seien.
Trotzdem suggeriert er hartnäckig einen Zusammenhang zwischen Religiosität,
Delinquenz und Gewalt, ohne ihn belegen zu können. Seitenweise lamentiert
er darüber, der Islam sei wohl das größte Integrationshindernis. Aber als
er sich dann mit zwei jungen Imamen aus seinem Bezirk unterhält, stellt er
verblüfft fest, dass sie in vielen Punkten gar nicht so anders denken wie
er selbst: „Das hätte fast alles auch von mir sein können.“
Buschkowsky fährt fort, indem er Einwanderern vorwirft, sie würden ständig
zwischen „wir“ und „den Deutschen“ trennen und sich dadurch abgrenzen �…
verhält sich aber selbst genauso. Er findet, Muslime würden es sich in der
Opferrolle bequem machen, und hält jede Klage über Diskriminierung für
kolossal übertrieben. Dafür stilisiert er sich selbst zum Opfer eines „vom
Linkskartell definierten Mainstream-Multikulturalismus“, das ihn mit Denk-
und Sprachregelungen zu gängeln versuche.
Man liest von Scharia-Gerichten im Wohnzimmer, Autorasern, die auf dicke
Hose machen, hier eine Anekdote und da noch eine. Hängen bleibt am Ende
nur: Es ist alles ganz schön schlimm. Wohl kein Bürgermeister in
Deutschland hadert so mit dem Quartier, das er regiert. Aber genau diese
Dauerklage hat Buschkowsky bundesweit populär gemacht, denn damit spricht
er offenbar vielen aus dem Herzen, denen die ganze Richtung nicht passt,
die die deutsche Gesellschaft nimmt.
## Nicht noch ein Sozialporno
Wer allerdings wirklich wissen will, was die besondere Problematik
Neuköllns ausmacht, sollte besser das Buch „In den Gangs von Neukölln“ von
Christians Stahl lesen. Der Titel lässt einen weiteren Neukölln-Sozialporno
à la „Arabboy“ vermuten, ist aber das Gegenteil: ein feinfühliges und
genaues Porträt eines jungen Serienstraftäters, das Klischees vermeidet und
nach Antworten sucht.
Vor neun Jahren zog der Journalist Christian Stahl nach Neukölln, das
damals noch als besonders verrufen galt. Der nette Nachbarsjunge, der ihn
im Flur höflich grüßte, entpuppte sich als Kleinkrimineller, der schon mit
13 Jahren in der Intensivtäterkartei geführt wurde und mit 16 die
Rütli-Schule verlassen musste, weil er Mitschüler bedroht, erpresst und
geschlagen hatte. Mit 17 beging er mit Kumpels dann einen brutalen
Raubüberfall in Hamburg, für den er zu einer dreijährigen Haftstrafe
verurteilt wurde. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass dieser
Nachbarsjunge so eine kriminelle Karriere machen konnte, ließ Christian
Stahl nicht los und brachte ihn dazu, diesem erst einen Film und jetzt ein
Buch zu widmen.
Zwischen 99 bis 167 solcher Intensivtäter gibt es, je nach Zählweise, in
Berlin-Neukölln, die Hälfte von ihnen trägt einen arabischen Namen.
Insofern kann man die Geschichte von Yehya E. als exemplarisch ansehen.
Yehya E. war einen Monat alt, als er 1990 mit seinen Eltern aus dem
Flüchtlingslager im Libanon, in dem er geboren wurde, nach Berlin kam. Sein
Vater durfte hier als „geduldeter“ Flüchtling 13 Jahre lang nicht arbeiten,
weil er in Deutschland nicht heimisch werden sollte, sein Sohn darf es bis
heute nicht.
## Der „Boss von der Sonnenallee“
Stahl nennt die Duldung eine „behördlich verordnete Perspektivlosigkeit“
und sieht einen Zusammenhang zwischen den deutschen Asylgesetzen und der
hohen Kriminalitätsrate in Berlin-Neukölln. Anschaulich beschreibt er die
Schikanen der Ausländerbehörde, die Yehya E. 2007 sogar in die Ukraine
abschieben wollte, weil der Libanon sich weigerte, ihn aufzunehmen. Bis
heute, mit 23 Jahren, darf er weder Berlin verlassen noch seinen
Führerschein machen, und weil er straffällig geworden ist, hat er auch
keine Chance, ein dauerhaftes Bleiberecht oder eine Arbeitserlaubnis zu
erhalten.
Auf der Straße als „Boss von der Sonnenallee“ gefürchtet, schlief er zu
Hause noch im Kinderzimmer. Von Amts wegen zur Untätigkeit verdammt,
flüchtete er sich erst recht in die Kriminalität. Christian Stahl
entschuldigt und beschönigt das nicht, aber macht diese Entwicklung
nachvollziehbar. „Wir schaffen den Nährboden für die kriminellen Kinder von
Neukölln und beschuldigen dann die Heimatländer ihrer Eltern“, findet
Stahl.
Im vergangenen Jahr wurde Yehya E. rückfällig, beteiligte sich an mehreren
Raubüberfällen und muss dafür nun bis mindestens 2018 im Gefängnis sitzen.
Wenn er aus der Haft kommt, wird sein Bezirk ein anderer sein. Schon jetzt
ist Neukölln ein beliebtes Wohnumfeld geworden für Studenten, Künstler und
junge Familien, die wegen der günstigen Mieten in den ehemaligen
Brennpunktbezirk ziehen.
Die Klage über die rasante Gentrifizierung des Bezirks hat die Klage über
Parallelgesellschaften und gescheiterte Integration abgelöst, und
Buschkowsky wird nur noch bis 2016 Bezirksbürgermeister sein. Dann wird
auch er Geschichte sein – und mit ihm vermutlich all die Bücher, die einen
Abgesang auf Neukölln als Menetekel der Republik angestimmt haben.
4 Nov 2014
## AUTOREN
Daniel Bax
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