# taz.de -- Schlagloch Religion: Der Luther des Islam | |
> Es gibt sie, die Reformer. Doch sie finden auch bei den Alternativen oder | |
> Linken wenig Aufmerksamkeit. Denn die blicken häufig auf Religiöse herab. | |
Bild: Dieser Koran aus Albanien ist 26,8 mm lang und 21,6 mm breit. | |
Wenige Wochen vor dem Massaker in Paris erhielt ich eine Mitteilung des | |
Herder Verlags, dass eins meiner Bücher wegen geringer Verkaufszahlen aus | |
dem Handel genommen würde: „Mohammed und die Zeichen Gottes“. Ich war bei | |
diesem Buch über den Koran vor allem eine Art schreibende Hebamme gewesen, | |
die Inhalte stammen von dem ägyptischen Arabisten Nasr Hamid Abu Zaid | |
(1943–2010). Im Westen wurde er bekannt, als er in Ägypten als Ketzer | |
verleumdet und zwangsgeschieden wurde und nach Todesdrohungen in die | |
Niederlande emigrierte. | |
Abu Zaid war das, was man einen Reformdenker nennt: Er vertrat eine | |
historisch-kritische Lesart des Islam, wich vor keiner „unbequemen“ Frage | |
nach Koranversen aus, in denen es um Krieg oder das Geschlechterverhältnis | |
geht, erklärte jeden Vers vor seinem zeitlichen Hintergrund und schuf so | |
für muslimische wie nichtmuslimische Leser_innen einen zeitgemäßen Zugang | |
zum Koran. | |
„Eigentlich hätte ein Rauschen durch den Blätterwald gehen müssen. Das | |
Manifest eines aufgeklärten Islam, verfasst von einem waschechten, | |
liberalen Reformer und geadelt durch die islamistischen Anfeindungen … | |
Stattdessen weiterhin Schweigen“, schrieb damals der Islamwissenschaftler | |
Ludwig Amann (taz v. 25. 10. 2008). Es blieb beim Schweigen. Das Buch bekam | |
noch einige lobende Rezensionen, aber kaum jemand kaufte es. | |
Alle fordern, „es müsste endlich einen muslimischen Luther geben“, aber | |
niemanden interessieren seine Bücher. Viele Leute können aus dem Stand ein | |
paar „blutrünstige“ Hadithe herbeigoogeln – aber Ausführungen dazu, war… | |
der Prophet Mohammed (auch) in den Krieg zog und warum der Islam dennoch | |
eine Religion des Friedens und der Liebe ist, will keiner lesen. | |
Ich würde hier nicht davon erzählen, wenn ich nicht von anderen | |
muslimischen Autor_innen wüsste, dass es ihren Büchern zu einem | |
„friedlichen Islam“ ähnlich geht. Manchmal machen wir Witze: „Meine Rente | |
ist gesichert. Wenn ich mal nicht mehr mag, schreib ich ein Buch darüber, | |
warum ich kein Kopftuch trage oder dass meine Mutter zwangsverheiratet | |
wurde.“ Bücher über geschlagene und unterdrückte Musliminnen gehen immer, | |
aber Bücher mit islamisch-theologischem Inhalt will keiner. | |
## Hochmut der Atheisten | |
Oder besteht generell wenig Interesse an einem Diskurs über Religion, der | |
nicht die schlimmsten antireligiösen Vorurteile bestätigen? Die | |
progressiven, an einer vielfältigen oder multikulturalistischen | |
Gesellschaft interessierten Bürger_innen sind zwar nicht durchgehend, aber | |
doch typischerweise areligiös. Ich habe Dutzende von Freunden und | |
Bekannten, die zwar antiislamische Ressentiments erkennen, weil diese | |
Ressentiments rassistisch sind; aber dem religiösen oder spirituellen | |
Aspekt der Angelegenheit stehen diese Freunde indifferent bis misstrauisch | |
gegenüber. | |
Sie dulden Religion, weil sie anscheinend zum Leben vieler Menschen gehört; | |
aber im Grunde finden sie es ein bisschen albern, religiös zu sein oder gar | |
gefährlich. Denn wer im religiösen Sinne glaubt – so meinen diejenigen, die | |
sich Agnostiker nennen oder Atheisten –, hält definitionsgemäß etwas für | |
wahr, für das es keine „Beweise“ gibt; also folgt er wohl „Autoritäten�… | |
Und „Opium fürs Volk“ ist ja auch noch im Spiel, das heißt, religiöse Le… | |
neigen angeblich dazu, die religiöse Wahrheit vor die Realität zu setzen, | |
wenn diese unbequem und veränderungsbedürftig ist. | |
Liebe Linke oder Grüne oder Aufgeklärte, oder wie auch immer ihr euch genau | |
bezeichnet, bitte überdenkt mal euren Hochmut. Nein, gläubige Menschen | |
stecken nicht „noch“ in irgendwelchen mittelalterlichen dunklen Gefilden | |
fest, wo man an Geister und böse Luft glaubte, weil man Bakterien nicht | |
kannte. | |
Gewiss, Religionen und der ihnen innewohnende Wahrheitsanspruch haben oft | |
zur Gewalt geführt oder diese legitimiert, aber dies gilt für alle, auch | |
für säkulare Gedankengebäude. Auf die Ideale der Französischen Revolution | |
folgte sogleich revolutionärer Terror; die schlimmsten Verbrechen und | |
Massenmorde des 20. Jahrhunderts wurden nicht im Namen von Religionen | |
vollbracht. Wir Menschen haben nun einmal die zweifelhafte Gabe, alle | |
Gedanken, auch die besten und hehrsten Ideale, so zu drehen und zu wenden, | |
dass sie dem Grausamsten als Steigbügel dienen. | |
## Tanz, Kunst, Theater und Religion | |
Das antireligiöse Vorurteil speist sich nicht nur aus der Geschichte der | |
Gewalt, sondern eben auch aus dem Eindruck, an Gott zu glauben sei | |
überkommen, haltlos, unbegründbar. Doch Religion, Gottesdienst und Beten | |
sind uralte menschliche Kulturtätigkeiten. Und nur weil sie uralt sind, | |
heißt das nicht, dass sie schlecht sind. Liebe Agnostiker, bitte lenkt doch | |
eure Aufmerksamkeit mal nicht auf „alt“, sondern auf „Kultur“. | |
Beten ist eine der ursprünglichsten menschlichen Tätigkeiten, sagte, | |
sinngemäß, die Philosophin Iris Murdoch; Religion ist dem Menschen ein | |
anthropologisches Bedürfnis. Das heißt nicht, dass jeder Mensch betet oder | |
religiös ist. Auch nicht alle Menschen spielen gerne, nicht alle tanzen, | |
leben mit Kunst oder verstehen etwas von Musik – und doch gehören Spiel, | |
Tanz, Musik und Kunst zum Menschen. | |
Wenn areligiöse Leute über Religion spotten und versuchen, ihre | |
Wahrheitsbegriffe an den Glauben anzulegen und beim Durchblättern | |
religiöser Texte verständnislos bis belustigt den Kopf zu schütteln – dann | |
ist das nichts anderes als wenn jemand, der noch nie in einem Museum war, | |
dort erstmals Joseph Beuys’ berühmte fettige Badewanne oder eine monochrome | |
blaue Leinwand sieht und sagt: „Und das soll Kunst sein?“ | |
Es gibt eine innere Logik und einen Sinn von Religion, der sich einem nur | |
erschließt, wenn man sich eingehend damit beschäftigt und ein Stück weit | |
darauf eingelassen, damit gelebt hat. Gewiss kann Religion in einem | |
säkularen Staat nicht die Basis der Begründung gemeinsamer Normen stellen. | |
Aber sie verdient mehr als Duldung und leicht mitleidige oder spöttische | |
Nachsicht, nämlich die Anerkenntnis als kulturelles Tun, das auch in | |
unserer heutigen Gemeinschaft seinen legitimen Platz hat. | |
24 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
## TAGS | |
Gewalt | |
Moderne Kunst | |
Luther | |
Islam | |
Augsburg | |
Terrorismus | |
Charlie Hebdo | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Pegida | |
Liberalismus | |
Konsum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Gott und die Welt: Fugger, Streicher und Luther | |
Zwischen Anstifter und Reformator: Warum richtete sich Martin Luthers Hass | |
gegen die Juden? Ein Spaziergang durch Augsburg. | |
Onlinesender für muslimisches Leben: Ein „Lifestyle Channel“ | |
Wenn Muslime im Fernsehen auftauchen, geht es meist um Terrorismus. Ein | |
Onlinesender will mit positiven Bildern dagegenhalten. | |
Debatte Terror in Frankreich: Die populistische Obsession | |
Es arbeiten mehr Muslime für die französischen Sicherheitsdienste als für | |
al-Qaida. Doch das will derzeit niemand wissen. | |
Schlagloch Dschihadismus: Die Opferfalle | |
Muslime müssen sich von Terroristen distanzieren, die in ihrem Namen | |
morden. Nur so können sie sich selbst definieren und stärken. | |
Schlagloch „Abendland“: Pegida reloaded | |
Das Erbe patriotischer Europäer und Parolen aus dem Fundus: ein | |
Neujahrsmärchen über Aufstieg und Fall des Abendlandes. | |
Schlagloch Liberalismus: Liberal sein? Gern! Nur wie? | |
Der politische Liberalismus ist gestorben. Woran eigentlich? Und warum ist | |
sein Untergang auch für die Linke gefährlich? Ein Debattenbeitrag. | |
Schlagloch 12 Monate Verzicht: Reine Konsumwunschanfälle | |
Dinge zu reparieren, hat unsere Autorin gelernt. Trotzdem ist sie beim | |
Verzicht gescheitert. Der Kapitalismus hat das Soziale in Warenform | |
gegossen. |