# taz.de -- Debatte Terror in Frankreich: Die populistische Obsession | |
> Es arbeiten mehr Muslime für die französischen Sicherheitsdienste als für | |
> al-Qaida. Doch das will derzeit niemand wissen. | |
Bild: Polizeischutz vor einer Moschee in Paris: Bewachung – oder Überwachung? | |
Die Stimmung, die Frankreich nach dem Attentat auf Charlie Hebdo erfasst | |
hat, ist mehr als eine Reaktion auf den Horror oder eine | |
Solidaritätsbekundung. Denn auch der Terroranschlag war mehr als ein | |
Verbrechen: Er ist ein politisches Ereignis, weil er eine einst | |
intellektuelle Debatte in eine lebenswichtige Frage transformiert hat. | |
Nach der Verbindung zwischen Islam und Gewalt zu fragen bedeutet, den Platz | |
von Muslimen in Frankreich zu diskutieren. Das berührt den grundsätzlichen | |
Zusammenhalt der französischen Gesellschaft. Die vorherrschende Meinung | |
geht von einer demografischen Bedrohung aus: Es werden immer mehr Muslime. | |
Die antirassistische Minderheitenmeinung findet, dass der Zusammenhalt von | |
der zunehmenden Islamophobie ausgehöhlt wird, ausgelöst durch den Terror | |
Einzelner. Das Risiko für die Mehrheit sieht sie in der zunehmenden | |
Verachtung der Muslime in Frankreich. | |
Die Frage nach dem Zusammenleben hatte sich bereits vor dem Attentat auf | |
Charlie Hebdo gestellt, aber sie war noch „lokalisierbar“: die | |
populistische Obsession gegen die Einwanderung, die Ängste einer | |
konservativen Rechten oder die Religionsfeindschaft von linker Seite, die | |
sich in einen Identitätsdiskurs verwandelt hat, den der Front National (FN) | |
sich angeeignet hat. | |
Doch nun hat sich die Debatte über Islam und Muslime in Frankreich (nein, | |
es handelt sich nicht um einen französischen 11. September – ein bisschen | |
Haltung und Zurückhaltung bitte!) verselbstständigt. Vereinfacht gesagt, | |
dominieren zwei Diskussionen den öffentlichen Raum. Der bestimmende Diskurs | |
widersetzt sich vorsätzlich der Political Correctness und wird darüber zum | |
PC-Diskurs. | |
Er geht davon aus, dass Terrorismus ein extremer Ausdruck des „wahrhaften“ | |
Islam ist. Dieser lässt sich auf die Ablehnung des Anderen zurückführen | |
zugunsten der religiösen Norm (Scharia) und des Dschihad. Zugleich sollen | |
Entscheidungen der Terroristen eher auf Fehleinschätzungen und | |
Ressentiments beruhen und weniger auf der Gewissheit, im Besitz der | |
Wahrheit zu sein. | |
## Die Koran-Software | |
In diesem Sinne sind alle Muslime Träger einer im Unbewussten verankerten | |
und koraninduzierten Software, die sie letztlich unassimilierbar macht, | |
zumindest solange sie nicht laut ihre Konvertierung zum liberalen Islam – | |
feministisch und „schwulenfreundlich“ – kundtun, am besten im Fernsehen | |
unter der Kuratel eines gestrengen Journalisten, der sich der Beliebtheit | |
bei den „großen Christen“ dieser Welt sicher sein kann. | |
Die Haltung wiederum, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann und die | |
ich als „islamprogressiv“ bezeichnen würde, wird von mehr oder weniger | |
gläubigen Muslimen und vor allem der antirassistischen Bewegung „Nicht in | |
meinem Namen“ vertreten: Der Islam der Terroristen ist nicht mein Islam, ja | |
es ist überhaupt kein Islam, denn der ist eine Religion des Friedens und | |
der Toleranz. (Das übrigens ist ein Problem für die vielen Atheisten | |
muslimischen Ursprungs, die zwischen dem Verdammungsüberangebot des | |
Fundamentalismus und der Nostalgie eines „andalusischen“ Islam, den es nie | |
gab, schwanken.) | |
Die wirkliche Bedrohung hier ist die Islamfeindlichkeit und die darüber | |
legitimierte Ausgrenzung, ohne dass dabei die Radikalisierung der | |
Jugendlichen entschuldigt wird. Die Aneinanderreihung beider Erzählungen | |
und Diskussionen führt in die Sackgasse. | |
Um aus ihr wieder herauszukommen, gilt es zunächst, stur Fakten zu | |
berücksichtigen, die man einfach nicht sehen will. Sie zeigen, dass die | |
jungen Radikalen keineswegs die Avantgarde oder die Wortführer der | |
frustrierten muslimischen Bevölkerung darstellen. Denn: Es gibt keine | |
muslimische Gemeinschaft in Frankreich. | |
## Fantasie heldenhafter Böser | |
Die jugendlichen Radikalen, die sich natürlich auf eine imaginäre | |
muslimische Politik stützen (die „Umma“ aus der vorislamischen Zeit), haben | |
mit dem Islam ihrer Eltern gebrochen und einen erfunden, der sich gegen das | |
Abendland richtet. | |
Sie kommen vom Rand der muslimischen Welt (zur Erinnerung: gemessen an der | |
Bevölkerungszahl „lieferte“ Belgien hundertmal so viele Dschihadisten für | |
den IS wie Ägypten), sie bewegen sich in einer abendländischen | |
Kommunikationskultur, einer westlichen Inszenierung von Gewalt, sie | |
verkörpern einen Generationenbruch (die Eltern rufen die Polizei, wenn sich | |
ihre Kinder nach Syrien aufmachen), sie sind nicht Teil der lokalen | |
religiösen Gemeinden oder Moscheen im Viertel. Stattdessen praktizieren sie | |
eine Selbstradikalisierung via Internet, interessieren sich für einen | |
globalen Dschihad und nicht für konkrete Kämpfe in der muslimischen Welt | |
(Palästina). | |
Kurzum: Sie arbeiten nicht an der Islamisierung ihrer Gesellschaften, | |
sondern wollen ihre Fantasie vom heldenhafen Bösen verwirklichen („Ich habe | |
den Propheten gerächt“). Auch der hohe Anteil der Konvertierten (laut | |
französischer Polizei sind das 22 Prozent der Freiwilligen des IS), | |
veranschaulicht gut, dass sich randständige Jugendliche radikalisieren und | |
eben nicht das Herz der muslimischen Bevölkerung. | |
## Sei der, der du nicht sein sollst | |
Zudem sind französische Muslime viel besser integriert, als ihnen | |
nachgesagt wird. Jedes „islamistische“ Attentat forderte mindestens ein | |
muslimisches Opfer unter den Sicherheitskräften: Der Soldat Imad Ibn Ziaten | |
wurde von Mohamed Merah in Toulouse 2012 getötet; der Polizist Ahmed | |
Merabet wurde getötet, als er versuchte, die Mörder von Charlie Hebdo zu | |
stoppen. | |
Doch anstatt sie als leuchtendes Beispiel zu nehmen, missbraucht man die | |
Getöteten als Gegenbeispiel: Denn der „wahre“ Muslim ist Terrorist und alle | |
anderen sind Ausnahmen. Statistisch gesehen ist das falsch: In Frankreich | |
arbeiten mehr Muslime bei der Armee, der Polizei und der Gendarmerie als | |
für al-Qaida. Nicht zu reden von der Administration, dem Bildungssektor | |
oder den Krankenhäusern. | |
Ein anderes Klischee besagt, dass Muslime den Terrorismus nicht verurteilen | |
würden. Doch das Internet bordet über von Verurteilungen und | |
Anti-Terrorristen-Fatwas. Wenn all diese Fakten der gängigen These der | |
Radikalisierung widersprechen, warum werden sie stets übersehen? | |
Weil man der muslimischen Bevölkerung eine Vergemeinschaftung anlastet, um | |
ihr anschließend vorzuwerfen, diese nicht zu nutzen. So wirft man Muslimen | |
vor, eine Gemeinschaft zu sein, und verlangt von ihnen gleichzeitig, sich | |
als Gemeinschaft gegen den Terror auszusprechen. Das ist ein klassisches | |
Doublebind: Sei der, der du nicht sein sollst. | |
## Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung | |
Auf lokaler Ebene, also in den Quartiers, lassen sich durchaus Formen der | |
Vergemeinschaftung konstatieren, aber nicht auf nationaler Ebene. Muslime | |
in Frankreich hatten noch nie das Bedürfnis, repräsentative Institutionen | |
zu installieren oder gar eine muslimische Lobby. Es gibt nicht den Hauch | |
einer islamischen Partei (schade für Houellebecq, aber er hat natürlich die | |
Literatur-Entschuldigung). Politiker mit islamischem Hintergrund fügen sich | |
ins bestehende Parteienspektrum ein, inklusive der Rechtsradikalen. Es gibt | |
kein muslimisches Wahlverhalten, was die Parti Socialiste als Nachteil | |
verbuchen musste. | |
Es gibt auch kein Netzwerk von muslimischen Schulen (es sind weniger als | |
zehn in Frankreich), keine Mobilisierung der Straße (keine Demonstration zu | |
islamischen Themen hat mehr als einige tausend Menschen versammeln können). | |
Es gibt kaum große Moscheen, sondern vor allem viele kleine in der | |
Nachbarschaft. Wenn es überhaupt Bestrebungen zur Vergemeinschaftung gibt, | |
kommen sie von oben. Sie gehen vom Staat aus, nicht von den Bürgern. Der | |
französische Rat der Muslime in der Großen Moschee von Paris etwa wird von | |
der französischen und anderen Regierungen unterstützt, aber er besitzt | |
keinerlei lokalen Rückhalt. Die muslimische Community leidet also an einem | |
sehr gallischen Individualismus und verweigerte sich bislang dem | |
Bonapartismus der Eliten. Eine gute Nachricht. | |
Trotzdem hört man nicht auf, von der famosen muslimischen Gemeinschaft zu | |
sprechen, bei den Linken wie bei den Rechten – sei es, um den | |
Integrationswillen von Muslimen zu denunzieren, sei es, um Opfer der | |
Islamophobie zu konstruieren. | |
Die einander entgegengesetzten Diskurse vereinen sich im gemeinsamen | |
Phantasma von einer imaginären muslimischen Gemeinschaft. Doch genau die | |
gibt es nicht. Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung. Allein diesen | |
einfachen Umstand zur Kenntnis zu nehmen wäre ein wichtiger Schritt gegen | |
die gegenwärtige Hysterie und gegen die, die noch kommen wird. | |
Aus dem Französischen: Ines Kappert | |
23 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Olivier Roy | |
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