# taz.de -- Sicherheit in der Hauptstadt: „Gefahr für Leib und Leben“ | |
> Polizisten auf Bahnhöfen, Razzien in der Islamistenszene. Alarmismus? Der | |
> Chef des Berliner Staatsschutzes, Oliver Stepien, bestreitet das. | |
Bild: IS-Gegner auf einer Demonstration. | |
taz: Herr Stepien, seit den Anschlägen in Paris folgt in Deutschland und | |
auch in Berlin eine Razzia der nächsten. Was soll dieser plötzliche | |
Aktivismus bewirken? | |
Oliver Stepien: Das ist kein Aktivismus. Die Durchsuchungen am letzten | |
Freitag und am Dienstag bei einer islamistischen Gruppierung im Wedding | |
sind das Ergebnis langer Ermittlungen. Mit den Vorkommnissen in Frankreich | |
haben sie nur indirekt zu tun. | |
Was heißt indirekt? | |
Natürlich gibt es einen thematischen Zusammenhang. Aber schon vor Paris | |
stand fest, dass wir gegen die Weddinger Gruppierung im Januar vorgehen | |
würden. | |
Was für eine Rolle spielt der Verhaftete Ismet D. in der Berliner | |
Islamistenszene? | |
In Berlin gibt es keine hierarchisch strukturierte, einheitliche Szene. | |
Islamistische Gruppen finden sich zusammen, lösen sich auf, Personen | |
verschiedener Gruppen bilden neue Gruppierungen. Wir haben die Ermittlungen | |
auf die Weddinger Gruppe fokussiert, weil diese eine gewisse dauerhafte | |
Struktur aufweist und wir sie wegen ihrer grundsätzlichen | |
Gewaltbereitschaft für gefährlich halten, auch wenn sie nach unserer | |
Erkenntnislage hier keinen Anschlag plante. Ismet D. wird in der | |
Gruppierung eine ideologisch führende Rolle vorgeworfen. Personen wie er | |
sind aus Sicht der Sicherheitsbehörden relevant, weil sie den geistigen | |
Nährboden für den Extremismus und Terrorismus legen. | |
Dem Verfassungsschutzes zufolge haben sich Salafisten in Berlin seit 2011 | |
rasant vermehrt. 330 Personen werden als gewaltorientiert eingestuft. Wie | |
definiert der Staatsschutz gewaltbereit? | |
Es gibt keine knallharten Bewertungsmaßstäbe, die Grenzen sind fließend. | |
Das Ganze muss immer im Gesamtkontext gesehen werden. Das kann anfangen | |
beim Konsumieren von gewaltverherrlichenden Videos, dem Propagieren von | |
Gewalt bis hin zur konkreten Bereitschaft, Gewalt anzuwenden. | |
Das klingt ziemlich schwammig. Geht es ein bisschen konkreter? | |
Nehmen wir als Beispiel eine Gruppe, auf die wir durch Zeugenaussagen, | |
eigene oder verdeckte Ermittlungen, oder wie auch immer, gekommen sind. Wir | |
stellen fest, dass Mitglieder sich zum Islamunterricht nicht mehr in der | |
Moschee treffen, sondern eigene Veranstaltungen in Wohnungen machen. Das | |
wäre für uns ein Alarmsignal: Hier zieht sich eine Gruppe raus und | |
kommuniziert nur noch untereinander. Sei es, dass sie gemeinsam Videos | |
gucken, in denen der Dschihad propagiert wird. Der Gesamtkontext ist | |
entscheidend: Wer verkehrt wo mit wem? Sind aus dieser Gruppe in der | |
Vergangenheit Menschen ausgereist, von denen wir wissen, dass sie im | |
Ausland an Kampfhandlungen teilgenommen haben? | |
Ist die Schwelle für die Polizei, einzugreifen, durch die Ereignisse in | |
Paris niedriger geworden? | |
Nein, die Eingriffsschwelle richtet sich nach der Gefahr. Es geht hier um | |
die Gefahr für Leib und Leben durch Anschläge islamistisch oder religiös | |
motivierter Terroristen. Im Gefahrenabwehrrecht gibt es im | |
strafprozessualen Sinne keine Unschuldsvermutung. Wir arbeiten mit | |
Prognosen, die sich auf Tatsachen gründen. Und je höher die Gefahr ist, | |
desto geringer sind die Anforderungen an die Prognosen. | |
Haben gesellschaftliche Stimmungen, wie sie nach dem Anschlag auf Charlie | |
Hebdo herrschen, Einfluss auf die Prognosen? | |
Wir dürfen uns nicht von gesellschaftlichen Stimmungen leiten lassen. | |
Ausschlaggebend ist die tatsächliche Gefahren- und Faktenlage. Es gilt bei | |
der Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus äußerst wachsam zu | |
sein, gleichzeitig aber keinen Alarmismus zu betreiben. Wir schützen die | |
Bevölkerung und müssen dabei Maß halten. | |
Was für eine Gefahr geht von den als gewaltorientiert eingeschätzten 330 | |
Personen aus? | |
Wir haben in den letzten Tagen wiederholt erklärt, dass wir keinen | |
konkreten Anhaltspunkt für geplante Anschläge haben. Aber radikalisierte | |
Einzeltäter und Kleinstgruppen haben keine Anmeldepflicht bei der Polizei. | |
Die müssen wir identifizieren. | |
Wie viele Personen sind inzwischen aus Berlin in den sogenannten Heiligen | |
Krieg nach Syrien und den Irak gezogen? | |
Wir sprechen von einem hohen zweistelligen Bereich. Mit der Nennung von | |
konkreten Zahlen sind wir sehr zurückhaltend. Das kann sich täglich ändern. | |
Außerdem wissen wir manchmal nicht, ob jemand nach Syrien fährt, um dort zu | |
kämpfen. Manche fahren auch aus humanitären Gründen dorthin, manche | |
radikalisieren sich erst vor Ort. Nicht jeder, der annähernd in diese | |
Gegend fährt, ist ein Dschihadist. Man muss immer Augenmaß behalten. In | |
Einzelfällen stellen wir auch eine extrem schnelle Radikalisierung fest. | |
Früher gingen die Zeitläufe zum Teil über mehrere Jahre. | |
Worauf ist das zurückzuführen? | |
Das sind Mutmaßungen. Die vermeintlichen temporären Erfolge des Islamischen | |
Staates spielen sicher eine Rolle. Und dass die Dschihad-Propagandisten | |
immer professioneller arbeiten. | |
Gibt es so etwas wie klassische Biografien? | |
Meine Erkenntnis ist, dass es den klassischen Radikalisierungsverlauf nicht | |
gibt. Die Gemeinsamkeiten sind auf einem relativ hohen abstrakten Niveau zu | |
finden. | |
Was wäre das zum Beispiel? | |
Deutlich mehr Männer als Frauen machen sich auf die Reise in den Dschihad. | |
Immer wieder begleitet zum Beispiel eine Frau den Ehemann. Mit dieser | |
religiösem Einstellung ist ja ein gewisses Rollenverständnis verbunden. | |
In einer von der Innenministerkonferenz in Auftrag gegebenen Studie sind | |
einige Kriterien für die Radikalisierung aufgelistet. | |
Fehlende Anerkennung und Zugehörigkeit – vermeintlich oder tatsächlich –, | |
das trifft sicher zu, ist aber auch relativ abstrakt. Es handelt sich ganz | |
sicher nicht um die, die hier am erfolgreichsten sind und sich hier am | |
meisten zu Hause zu fühlen. Aber die Forschung wird in den nächsten Jahren | |
weiter sein, zumal immer mehr Lebensläufe für die Analyse zur Verfügung | |
stehen | |
Die taz und andere Verlage werden seit dem Anschlag in Paris von Polizisten | |
bewacht. Wie lange soll das noch dauern? | |
Wir bewerten die Lage fortlaufend neu. Die Kriterien, nach denen darüber | |
entschieden wird, möchte ich nicht öffentlich erörtern, auch Straftäter | |
lesen Zeitung. | |
Der Anschlag auf Charlie Hebdo hat gezeigt, dass ein paar Polizisten im | |
Zweifelsfall nichts ausrichten können. Ist das nicht Symbolismus? | |
Wenn wir die Maßnahme nicht für geeignet hielten, würden wir sie nicht | |
machen. Die Breite der möglichen Anschlagsszenarien ist leider so, dass man | |
auch Leute mit einbeziehen muss, die vielleicht nicht darauf aus sind, eine | |
Vielzahl von Leuten zu töten, sondern vielleicht nur einen Einzelnen schwer | |
verletzen wollen. Die Messung des Erfolgs ist insofern schwierig, weil man | |
nicht weiß, wer hat sich denn davon abhalten lassen. In der Gesamtschau | |
sind wir froh, dass nichts passiert ist. | |
Wegen einer Anschlagsdrohung hat die Polizei in Dresden am 19. Januar alle | |
Demonstrationen mittels Allgemeinverfügung verboten. Wäre in Berlin auch so | |
entschieden worden? | |
Das kann ich nicht sagen. Wir mussten diese Entscheidung nicht treffen. Es | |
kommt immer auf die konkrete Faktengrundlage im Einzelfall an. Dass das ein | |
sehr tiefer Eingriff in das Versammlungsrecht ist, darüber braucht man wohl | |
nicht zu diskutieren. | |
Sind die von Rechtsextremisten unterwanderten Bürgerinitiativen gegen | |
Flüchtlingsheime und die Pegida-Bewegung nun die Profiteure der aktuellen | |
Situation? | |
Fakt ist, dass die rechte Szene immer wieder versucht, Anknüpfungspunkte an | |
das bürgerliche Spektrum zu bekommen. Die Teilnehmerzahlen der Pegida- | |
Demonstrationen scheinen zu bestätigen, dass die Rechten ein Thema gefunden | |
haben, wo sie einsteigen können. | |
Ist das nicht die eigentliche Gefahr für die Zukunft – dass auch in Berlin | |
irgendwann Moscheen brennen könnten? | |
Bisher haben wir diese Vorfälle nicht wie zum Beispiel in Frankreich. Es | |
gibt natürlich auch hier Islamophobie. Die gab es auch schon vor Paris. Es | |
ist unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das nicht passiert. | |
Der norwegische Rechtsextremist Anders Breivik hat 77 Menschen auf dem | |
Gewissen. Die zehn Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds gehören zu | |
den schlimmsten Verbrechen rechtsextremer Gewalt in der Geschichte der | |
Bundesrepublik. Nach Bekanntwerden all dieser Taten sind – anders als nach | |
den 17 Toten in Paris durch Islamisten – nicht Millionen auf die Straße | |
gegangen. Haben Sie dafür eine Erklärung? | |
Nein. Das gilt nicht nur bei rechtsextremistischen Tötungsdelikten. Man | |
nehme die Terrororganisation Boko Haram, die in Nigeria in einer Stadt | |
mehrere hundert Menschen getötet hat. Mit dem Attentat auf Charlie Hebdo | |
ist es gelungen, die Gesellschaft im Herzen Europas zu treffen. Das gilt in | |
Deutschland auch für die Taten des NSU. | |
22 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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