| # taz.de -- In der Tradition der tschechischen Avantgarde: Die düstere Schönh… | |
| > Das Hannoversche Sprengel-Museum zeigt mit dem dokumentarischen | |
| > Surrealisten Viktor Kolář einen hierzulande völlig zu Unrecht unbekannten | |
| > Fotografen. | |
| Bild: Nachschub im Anmarsch: Ostrava 1980. | |
| HANNOVER taz | Wie Scherenschnitte erscheinen die schwarzen Silhouetten in | |
| einer Fotografie von Viktor Kolář: zwei Kirchtürme, massige Häuser, ein | |
| städtisches Konglomerat in vollkommenem Dunkel. Und dann ist dort ein | |
| gleißend heller, fast unwirklicher Ausschnitt: das große Fenster, | |
| vielleicht einer Fleischerei, eine Frau hantiert hinter einer Waage. Dieses | |
| Bild ist vielleicht das dunkelste, in der Erzählung geheimnisvollste der | |
| gut 50 Fotografien Kolářs, entstanden in vier Jahrzehnten, die derzeit das | |
| Sprengel-Museum in Hannover zeigt. | |
| ## Erste Schau in Deutschland | |
| In der hiesigen Fotoszene ist Viktor Kolář kaum bekannt, dekorative | |
| Bildbände gibt es von ihm schon gar nicht. Auch Kuratorin Inka Schube ist | |
| eher zufällig auf sein Werk gestoßen, als sie vor zwei Jahren in Prag war. | |
| In der Galerie der Stadt sah sie die erste umfassende Retrospektive des | |
| Fotografen mit über 220 Bildern und beschloss, ihn nach Hannover zu holen. | |
| Nun freut sie sich über die kleine Auswahl unter den konzentrierten | |
| Laborbedingungen im Raum für Fotografie – die erste Museumsausstellung | |
| Kolářs in Deutschland überhaupt. | |
| Viktor Kolář wird gern in die Schublade der Dokumentarfotografie gesteckt, | |
| geht dort in der Masse unter. Man werde ihm damit aber nicht gerecht, sagt | |
| Schube. Sie verweist auf unübersehbar surrealistische Aspekte, stellt ihn | |
| in die Tradition einer ganz eigenwilligen tschechoslowakischen Avantgarde | |
| aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. | |
| Mit der 1918 neu gewonnenen staatlichen Unabhängigkeit nahmen die | |
| künstlerischen Disziplinen den Auftrag zur nationalen Verortung innerhalb | |
| der europäischen Kultur wahr. Man orientierte sich international, pflegte | |
| aber auch, rund um den Theoretiker, Kritiker und Künstler Karel Teige | |
| (1900–1951) und die Künstlergruppe „Devětsil“, zu deutsch: Pestwurz oder | |
| neun Kräfte, einen spezifischen Mystizismus auf psychoanalytischer Basis. | |
| In der Fotografie verflochten sich verschiedene Richtungen. Neben der | |
| Collage Inspirationen aus dem Surrealismus um André Breton, Marcel Duchamp | |
| oder Man Ray verarbeitend, untersuchte man in erzählerischen | |
| Bildkompositionen eine neue fotografische Wirklichkeit. Ein Thema diente | |
| als Vorwand zum fotografischen Ausdruck, poetische Bilder, etwa von Josef | |
| Sudek (1896–1976), entstanden. | |
| Die künstlerische Ergiebigkeit der Zeitspanne von 1920 bis 1950 insgesamt | |
| zeigt, noch bis 6. April, die Ausstellung „Real Surreal“ im Kunstmuseum | |
| Wolfsburg; ihr Kapitel zur fotografischen Avantgarde in Prag kann als | |
| historische Folie zum Werk Viktor Kolářs nur empfohlen werden. | |
| Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der verschlüsselnde Surrealismus das | |
| Sammelbecken alles Dissidenten im kommunistischen Osten. Hier war besonders | |
| die Fotografie, klein und preiswert in ihren Artefakten, das künstlerische | |
| Medium, um Kritisches oder Anarchisches in Ausstellungen, Sammlungen und | |
| Veröffentlichungen zu schmuggeln. | |
| Nicht immer ging das glatt, wie die Biografie Kolářs zeigt. Der 1941 in | |
| Ostrava, dem ehemals österreichisch-ungarischen Mährisch-Ostrau, Geborene | |
| griff schon als Kind unter Anleitung des Vaters, eines professionellen | |
| Fotografen, zur Kamera. Mit 20 gab es eine erste Publikation, und seinen | |
| Brotberuf als Stahlwerker, später Grundschullehrer, gab er in den | |
| 1960er-Jahren zugunsten der Fotografie auf. | |
| Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings endete 1968 eine | |
| poststalinistische Periode vergleichsweise offenen politischen Klimas, das | |
| auch systemkritische Töne zuließ. In dieser Zeit hatte Kolář seinen | |
| ungeschönten, jedoch teilnahmsvollen Blick auf seine von Nachkriegszerfall | |
| und arbeitsamem Leben gezeichnete Heimatstadt ausgebildet, der nun | |
| ideologisch in Ungnade fiel. | |
| Kolář emigrierte über Wien nach Kanada, dokumentierte als Auftragsfotograf | |
| dort unter anderem neue Einkaufszentren und kehrte, trotz zu erwartender | |
| politischer Repressionen, 1973 nach Ostrava zurück. Denn nur seine | |
| Heimatstadt schien ihm relevante Geschichten bereit zu halten. Die von | |
| Bergbau und Schwerindustrie geprägte Großstadt im schlesischen Kohlebecken | |
| zog über lange Zeit eine arbeitssuchende ländliche Bevölkerung, aber auch | |
| Roma an, die ihre kulturellen Eigenarten weiterpflegten. | |
| ## Surreale Parallelwelten | |
| Allein diese Parallelwelten hätten schon genug surrealistisches Potenzial | |
| geboten. Hinzu kamen im Laufe der Jahre politische Weichenstellungen etwa | |
| zur Privatwirtschaft, die im Straßenhandel oder einer bescheidenen | |
| Gastronomie erblühte. | |
| Die konstanten Verwerfungen bis zum Niedergang der existenzsichernden | |
| Industrie mit Ende des Kalten Krieges, von unbeirrt hoffnungsvollen, oft | |
| stolzen Protagonisten der Geschichte getragen, fing (und fängt) Viktor | |
| Kolář ohne voyeuristische Gelüste in schwarz-weißen, präzise | |
| zugeschnittenen Bildkonzentraten ein – ausschließlich in Ostrava. Ihre | |
| geografische wie thematische Selbstbeschränkung macht die Einzigartigkeit | |
| seiner Fotografien aus, gibt ihnen kulturelle Tiefe. | |
| Ostrava ist nicht geeignet für eindrucksvolle Spaziergänge, aber es hat | |
| Orte großer Intensität. Es genügt, innezuhalten und zu schauen: den wahren | |
| Film des Lebens. | |
| ## „Real Surreal. Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie“: bis 6. April, | |
| Kunstmuseum Wolfsburg | |
| ## „Viktor Kolář. Fotografien“: bis 31. Mai, Sprengel-Museum Hannover | |
| 19 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
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