Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Der Celler Blues
> In der niedersächsischen Provinz schwappt hartnäckig braune Soße durch
> die Hirne so mancher in öffentlichen Funktionen tätigen Figuren.
Ich weiß nicht, wie es anderswo in der deutschen Provinz ist, ich kenne nur
meine eigene – im tiefsten Niedersachsen, wo sich, einem hartnäckigen
Gerücht zufolge, ekliger brauner Matsch organischen Ursprungs besonders
lange hält.
Richtig, ich rede von Nazi-Hirnen. Als ich in den Landkreis Celle zog, fand
ich als hochnäsige Hamburgerin die Kreisstadt zunächst mal langweilig (vgl.
mein Grundsatzreferat in der Publikation „Öde Orte“). Und zweitens
ärgerlich wegen des „Celler Lochs“, einer schlicht unfassbaren Intrige der
CDU-Landesregierung und des Verfassungsschutzes.
Für die Jüngeren unter uns erläutere ich gern: Der Verfassungsschutz
sprengte 1978 ein Loch ins Celler Gefängnis und erklärte der
Öffentlichkeit, dieses habe die RAF getan, um den dort einsitzenden
Terroristen Sigurd Debus zu befreien. Acht Jahre lang kamen sie damit
durch, ehe Journalisten den Skandal aufdeckten. Für die Jüngeren unter uns
sei erklärt: Die Bundesrepublik war damals angeblich bereits ein
demokratischer Staat.
Vor der Demokratie war auch in Celle irgendwas anderes los, worüber man
hier nicht mehr so gern spricht, aber das kann ja nicht ganz schlecht
gewesen sein, weil einige Akteure auch nach 1945 noch tolle Bürgermeister
und Landräte abgaben. Die Provinz ist beharrlich und langsam.
So musste erst 2007, kaum 60 Jahre nach Kriegsende, die Ernst-Meyer-Allee
ihren Namen abgeben. Ernst Meyer war ein prima Celler Oberbürgermeister,
bis die Briten ihn 1945 internierten. Als Dienstherr der Polizei war er
mitverantwortlich für das Massaker an KZ-Häftlingen am 8. April 1945, das
meine humorbegabten Mit-Niedersachsen danach „Celler Hasenjagd“ tauften.
Das hatten alle, die Ernst Meyer nach dem Krieg eine Allee spendierten,
gewusst oder hätten es zumindest wissen können.
Nach Ernst Meyer mussten dann noch ein paar lokale Nazi-Stars den Stadtplan
räumen. Aber nicht alle Anhänger großer Helden geben so schnell auf: Der
Ortsrat des Stadtteils Klein-Hehlen hält auch 2015 in Treue fest zu seiner
Rommel- und Stülpnagelstraße, entgegen der Empfehlung des Stadtrats. Zwei
Nazi-Karrieristen, einer davon zwar am Hitler-Attentat beteiligt,
allerdings zugleich bekennender Antisemit und Anstifter von Pogromen – das
sind gewiss Menschen, die man in Celle auch heute noch gern verehrt.
Der CDU-Ortsbürgermeister wünscht jedenfalls keine „entehrende“
Umbenennung. Der Celler Oberbürgermeister Dirk-Ulrich Mende (SPD) ist
darüber entsetzt, weil er das Vorurteil vom „braunen Celle“ am liebsten los
wäre. Die CDU kontert gerissen, das braune Celle rede ja Mende nun gerade
erst herbei – Logik, die begeistert. Ebenso wie der Einwand eines
CDU-Lokalpolitikers gegen ein Historiker-Gutachten, es sei
„unwissenschaftlich“, das Wirken der Generäle von heute aus zu beurteilen.
Von wann aus denn bitte sonst?
Nach Anne Frank, die im keine 30 Kilometer entfernten KZ Bergen-Belsen
starb, ist übrigens in Celle bisher keine Straße benannt worden. Und ich
schiebe weiter den Kreisstadt-Blues.
8 Apr 2015
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Provinz
Nazis
Celle
Provinz
Lesen
Lifestyle
Horror
Alten- und Pflegeheime
Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Städter welcome
Wer im Urbanen beheimatet ist, der weiß nichts von den Diskursen auf dem
Land, dabei sollte er dort dringend mal vorbeischauen.
Die Wahrheit: Naschperlen für Wikinger
Norddeutsche können alles und noch viel mehr: frieren, lesen oder auch
obszöne Autowaschanlagen benutzen.
Die Wahrheit: Mohnbrötchenintoleranz
Sind Hammerzehen besser als die Unverträglichkeit von Milchzucker? Das wäre
mal eine Abwechslung im Reich der Unbekömmlichkeiten.
Die Wahrheit: Geplagtes Bauerntrampel
Berliner Barmenschen sind cool, ach so cool. Doch hinter ihrem hippen
Lifestyle steckt nichts als nervtötendende Unfreundlichkeit.
Die Wahrheit: Die Rückseite der Republik
Dienstreisen werden überschätzt. Als Spesenritter trifft man auf die immer
gleichen Gruselphänomene in den üblichen Hotels des Grauens.
Die Wahrheit: Hier boxt der Papst im Altersheim
Probleme mit Gewalt zu lösen, wie es der Pontifex maximus brutalix gern
hätte, sollte man lieber den Protagonisten von Fernsehserien überlassen.
Die Wahrheit: Patentierte S-M-Partnerschaft
Jedem Sachsen sollte ein persönlicher Muslim zugeordnet werden. Denn die
Sachsen-Muslim-Partnerschaft geht rechnerisch perfekt auf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.