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# taz.de -- Syrien ist Gedöns: Kommt nicht in den Emohaushalt
> Syrer, ihr gehört einfach nicht zu uns. Wir haben uns längst entschieden
> und wir leben länger. Ihr nervt. Geht sterben, aber leise.
Bild: Hauptsache leise: Damaskus im Jahr 2013
Syrien ist Gedöns, na und ob! Man muss sich nur ansehen, wie oft auch
dieser kleinen Zeitung das Massensterben eine Seite 1 wert war. Mehr als 10
Finger werden zum Zählen nicht nötig sein. Dabei kümmert sich die taz um
das traurige Land so intensiv wie keine andere deutsche Tageszeitung. Wie
kann das sein?
Wie kann man die Vernichtung von ehemals 22 Millionen Menschen als Gedöns
empfinden? Wir kennen doch die Bilder von der Apokalypse Now in Homs und
Aleppo. Es fehlt auch nicht an bestürzten Kommentaren, inzwischen werden
solche sogar in den Staatsmedien ZDF und ARD verlesen. Aber das ändert
nichts. Syrien bleibt Gedöns. Denn die Syrer gehören nicht zu uns.
Genauso wenig, wie die Tutsi und Hutu in Ruanda damals zu uns gehörten. Da
ist die zählende Weltgemeinschaft streng. Da weiß sie, wo die Barbaren
sitzen, da zeigt sie feinsinnig und aufgeklärt mit den Fingern auf sie und
sagt „Bäh“ und: „Du stirbst allein.“ Und weil Stigmatisierung nun mal …
Selbstläufer ist, sondern die harte Arbeit der Wiederholung verlangt,
deshalb haben wir auch keine Zeit mehr, über Humanismusklimbim wie die
„Duty to protect“ nachzudenken.
Auch nur nachzudenken. Syrien kommt uns nicht in den Emohaushalt, Syrien
bleibt draußen, Schluss! Da können sich die Gutmenschen ruhig die Finger
wund tippen, unsere Entscheidung ist längst gefallen, ist nun mal so. Und
dass es sich um eine Entscheidung handelt, dass wir in unserer
Aufmerksamkeitsökonomie durchaus flexibel sind, das lässt sich an unserem
großen Interesse an Da’ash ablesen. (Da’ash ist das despektierliche, in der
arabischen Welt gebräuchliche Akronym für das, was wir Westler respektvoll
„Islamischen Staat“ nennen.)
Für die bärtigen Halsabschneider haben wir uns stante pede interessiert.
Okay, nicht wirklich gleich stehenden Fußes, aber als die anfingen, Leute
von uns vor laufender Videokamera einen Kopf kürzer zu machen, dann schon.
Da haben wir hingesehen und uns erregt. Das tun wir noch immer, ab und an.
Blöd nur, dass wir jetzt von einem von uns erfahren müssen, dass die
bärtigen Säbelträger gar nicht so fanatisch religiös, also gar nicht so
anders sind als wir. Zum Beispiel haben sie sorgsam unsere Stasi-Methoden
studiert und waren einst auch gute Freunde der amerikanischen
Geheimdienste. Beim Gründer und auch den Kadern handelt(e) es sich um
Exmilitärs aus dem Irak. In den marschierten die Amis unter Bush munter
ein, ließen Bomben fallen und die Rumsfelds unserer Welt machten reiche
Beute.
## Fundi-Fassade
Die Frustrierten gaben sich darauf zur Tarnung eine religiöse Fundi-Fassade
und setzten vom Koran unbeleckte Tschetschenen und Usbeken ein, um lokale
Autoritäten sowie charismatische Demokraten auszuschalten. Das haben Syrer,
die vor Da’ash fliehen mussten, uns längst erzählt, also versucht. Doch
erst jetzt hören wir hin, vielleicht.
Denn jetzt erfahren wir es durch einen der ganz wenigen westlichen
Journalisten, der in den letzten Jahren weiter Syrien bereiste, um weiter
mit Syrern vor Ort zu reden. Christoph Reuter vom Spiegel war
komischerweise nicht der Ansicht, dass man dem kleinen Araber nicht trauen
kann, dem großen Assad aber schon. Und er ist nicht nur Nahost-Experte,
sondern, holla, er spricht als einer der wenigen auch absurde Sprachen,
Arabisch zum Beispiel.
Und nun hat er mit den Ornigrammen des vor einem Jahr ermordeten Chefs von
Da’ash einen kleinen Schatz gehoben. Und damit leider böse gegen unsere
Gewissheit verstoßen, dass Da’ash nun mal die Spitze des arabischen
Untermenschen ist und dass, wer mit solchen Leuten zu tun hat, die
Massenvernichtung schon irgendwie auch verdient.
Wie genau, wissen wir auch nicht. Aber wir Feinsinnigen, wir, die wir die
Großwetterlage im Blick behalten müssen und Verantwortung tragen, wir haben
anderes zu tun. Afrikaner ertrinken lassen, zum Beispiel. Und selbst das
ist nicht mehr so einfach wie früher. Irgendwie wollen auf einmal alle
leben. Wie soll das gehen? Es gibt nicht für jeden einen Platz an der
Sonne. Und wir sterben hier mit Mitte 80, wir bleiben also noch ein
Weilchen. Syrien, das musst du einfach mal einsehen, du nervst wie Hölle.
Komm, Syrien, lass uns in Ruhe, geh sterben! Aber leise.
22 Apr 2015
## AUTOREN
Ines Kappert
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